Die zwei Schulen vom Großen Ziegenberg
Ein Verein will mit einer Ausstellung an die Geschichte von Ballenstedt erinnern
Mit Folgsamkeit oder gar Gehorsam ist es nicht mehr weit her. »Privatgelände«, steht auf dem Schild am Fuß des Großen Ziegenbergs. Am Beginn einer Straße, die im lichten Wald verschwindet, warnt die Stadtentwicklungsgesellschaft Ballenstedt vor dem Betreten und droht bei Verstoß sogar mit dem Strafgesetzbuch. Das scheint nicht jeden zu schrecken. In dem monumentalen Gebäude, das ein paar hundert Meter weiter auf dem Berg thront, sind Spuren unerwünschter Besucher allgegenwärtig. Scheiben sind zerschlagen, Kabel aus den Wänden gerissen, Schaltkästen zertrümmert. Karl-Heinz Meyer hebt ein wenig resigniert die Hände. »Wir wollen uns um die Geschichte kümmern«, sagt der Historiker, Lehrer und Lokalpolitiker, »und ringen statt dessen mit Schrottdieben.«
Vor 70 Jahren war der Ziegenberg ein Ort, an dem Gehorsam über alles ging - ein Ort, an dem die Devise »Führer befiehl, wir folgen dir« in Jungenköpfe gehämmert wurde. Im dichten Wald hoch über der Stadt wurden erste Gebäude einer Schule eröffnet, in der die Elite des so genannten »Tausendjährigen Reichs« herangezogen werden sollte. Schon am 1. April 1934 war in dem Harzstädtchen, das als die Wiege des Fürstentums Anhalt gilt, eine »Nationalpolitische Bildungsanstalt« (NAPOBI) gegründet worden, die erste außerhalb Preußens. Zunächst freilich mussten die »Jungmannen« noch die Enge der Kleinstadt erdulden. Die Internate lagen zu Füßen des Schlosses zwischen Beamtenvillen, dem in Teilen von Lenné gestalteten Park sowie Kurheimen für Lungenkranke.
Welche Architektur der NS-Staat als angemessen für den Führernachwuchs ansah, zeigte sich erst neun Jahre später beim Umzug auf den Ziegenberg. Dort war seit 1936 eine neue NAPOBI errichtet worden, »der erste Neubau einer solchen Schule überhaupt«, sagt Meyer. Der Respekt und Furcht einflößende Charakter des Gebäudeensembles, dessen Grundriss entfernt an einen Reichsadler erinnert, lässt sich auch heute noch ahnen. Einerseits lag die Schule hoch über der Stadt; wer hier lernte, durfte sich durchaus erwählt fühlen. Andererseits dürften sich die teils erst zehnjährigen Schüler vor dem Portal mit seinen monströsen Säulen wie Ameisen gefühlt haben; auf dem von Internaten gerahmten kahlen Hof mit den Dimensionen eines Stadions verlor sich der Einzelne. Der Leitspruch »Du bist nichts, dein Volk ist alles« wurde auf dem Ziegenberg in Beton, Kalkstein und Marmor gefasst.
Karl-Heinz Meyer möchte die Besucher, die er als Chef eines gleichnamigen Vereins künftig einmal auf dem »Großen Ziegenberg« zu begrüßen hofft, deshalb vor Betreten des Schulhofs einstimmen. Der vor etwa drei Jahren gegründete Verein hat es sich zum Ziel gesetzt, in einer Ausstellung über die Geschichte des Ortes zu informieren. Als Lehrer setzt Meyer dabei nicht auf Überrumpelung durch Emotionen, sondern auf Aufklärung. Sie soll Besuchern in einem Flachbau zuteil werden, um den das Gebäudeensemble erst lange nach Ende der NAPOBI ergänzt wurde. Das Gebäude, in dem hinter schmutzigen Scheiben mit Kunstleder bezogene Bürostühle zu sehen sind, diente einst als KDP - als »Kontroll- und Durchlasspunkt«, der dafür sorgte, dass die Schüler auf dem Großen Ziegenberg ungestört lernen konnten.
Denn als Schule diente die Anlage weiterhin. Die einstige NAPOBI wurde nach einem kurzen Intermezzo als Unterkunft für Rotarmisten bereits ab 1949 zur Kaderschmiede für die SED; hier war die Landes- und spätere Hallenser Bezirksparteischule »Wilhelm Liebknecht« ansässig. Zunächst 400, später sogar 600 Teilnehmer, die aus Betrieben, Schulen und Verwaltungen kamen, wurden in den Lehrgängen in Fächern wie Marxismus-Leninismus und Politische Ökonomie geschult oder bekamen Wissen zur Geschichte der Arbeiterbewegung und über den Parteiaufbau vermittelt.
Politisch verstand sich der Staat, dessen führende Partei nunmehr auf dem Großen Ziegenberg ihre Kader für höhere Aufgaben vorbereitete, als Gegenentwurf zu den Erbauern der Schule. Die jedoch wurde nahezu unverändert weitergenutzt. Mit der Voll-endung der Bauarbeiten wurde derselbe Architekt betraut, der den Bau einst für die Nazis entworfen hatte. Nur das einschüchternde Kasernenhofflair wurde durch Blumenrabatten und Bäume gemildert; einige Koniferen haben es bis heute zu stattlicher Größe gebracht. Die Geschichte der Gebäude sei allen bekannt gewesen, sagt Jochen Raspe, letzter Leiter der Parteischule: »Aber es hat keinen wirklich berührt.«
Was sich nicht änderte, war auch die Distanz zwischen der Schule und der Stadt. Wer auf den Großen Ziegenberg geschickt wurde, sollte für höhere Aufgaben in Partei und Staat vorbereitet werden. Zwar sei es spätestens seit der drastischen Erhöhung der Schülerzahlen in den 1970er Jahren auch darum gegangen, eine hohe Quote von Absolventen vorweisen zu können: »Im Bezirk Karl-Marx-Stadt lag diese stets höher, was für Unmut sorgte«, sagt Raspe. Zugleich aber sei der Unterricht sehr anspruchsvoll gewesen: »Das Arbeitspensum war mit 60 Stunden pro Woche geplant.« Viel Zeit für Abstecher hinunter nach Ballenstedt blieb nicht; angesichts von eigenem Laden und Buchladen, Mensa und Bibliothek waren sie auch nicht notwendig: »Wir waren autark«, sagt Raspe. Die Einheimischen wiederum kamen zuletzt höchstens noch bei Jugendweihen in den Festsaal; der Rest der Schule blieb unzugänglich. Fotos durften auch Schüler nicht schießen.
Entsprechend groß waren Neugier und Erwartungen nach dem Ende der Vorherrschaft jener Partei, die in Ballenstedt ihre Kader geschult hatte. Die Atmosphäre war »sehr konfrontativ«, erinnert sich Raspe, der mit den Runden Tischen in Bezirk, Stadt und Kreis verhandelte. Die Bürger wollten vermuteten Geheimnissen der Schule auf die Schliche kommen; Raspe und seine Kollegen hielten derweil ihre Hände über die Schule - in der irrigen Annahme, diese sei Parteieigentum.
Das war sie nicht, weshalb das Gebäude bei der Treuhand landete und die GmbH abgewickelt wurde, die zunächst die Einrichtung mit ihren 120 Mitarbeitern in die Marktwirtschaft zu führen versucht hatte. »Ich habe die Schule im Jahr 1991 betriebsfähig übergeben«, betont Raspe, dem freilich zu dem Zeitpunkt längst klar war, dass die Suche nach einer Zukunft für den Komplex holprig werden würde: Er kannte nicht zuletzt die Rechnungen für Wasser und Wärme.
Einige Zeit immerhin sah es so aus, als ob das Leben auf dem Ziegenberg weiterginge: Nachdem die Treuhand einige Millionen investiert hatte, zog die Fachhochschule für öffentliche Verwaltung des Landes Sachsen-Anhalt ein. 1995 jedoch war das Kapitel beendet. Zuvor hatte es Pläne für ein großes Seniorenheim oder ein Bildungszentrum gegeben. Vereinschef Meyer träumt heute von einer Europaschule; immerhin sei der Komplex ursprünglich als Internatsschule konzipiert. Jochen Raspe hält das für wenig aussichtsreich. »Man braucht keine Einrichtung für 600 Leute mehr«, sagt er: »Der Bau ist einfach zu groß.«
Die Wirklichkeit scheint ihm Recht zu geben: Die frühere Elite- und Kaderschule, die teilweise der Stadt gehört und teils auf Umwegen an einen Investor aus Österreich geriet, dämmert vor sich hin. Zwischen den Platten im Hof sprießt Unkraut; im einst ansehnlichen Vorlesungssaal wurden die Vorhänge abgerissen und Klappsessel demoliert. Ironischerweise ist die Zerstörungswut indirekt eine Folge der Aktivitäten, die Meyers Verein entfaltet. Seine Recherchen ermöglichten eine Fernsehdokumentation über »Das ungeliebte Erbe von Ballenstedt«, das vielen Anwohnern erstmals Einblick in das Innenleben der einstigen NAPOBI und Parteischule ermöglichte - aber wohl auch Neugierige anzog, die Buntmetall oder vermeintliche Anlagen der Stasi suchen. Um weitere Schäden in Grenzen zu halten, gehen Mitglieder des Vereins nun auf Kontrollgänge.
Gleichzeitig wird Material für die Ausstellung gesammelt, die im April 2014, rechtzeitig zum 80. Jahrestag der Gründung der NS-Eliteschule in Ballenstedt, eröffnen soll. Weil das Torhaus auf dem Ziegenberg noch in sehr marodem Zustand ist, soll sie zunächst in einem eigenen Raum des Ballenstedter Museums unterhalb des Schlosses zu sehen sein. Die Exposition, die mit Unterstützung der Landeszentrale für politische Bildung und der Uni Magdeburg entsteht, solle zeigen, »wer in die jeweilige Schule kam, was dort mit welcher Absicht vermittelt wurde und welche Wege die Absolventen später nahmen«, sagt Meyer. Man wolle dabei »keinen verurteilen«, fügt der Gymnasiallehrer und Chef der Ballenstedter Ratsfraktion der LINKEN hinzu. Immerhin, sagt er, seien die jeweiligen Schüler »allesamt Kinder ihrer Zeit gewesen«.
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