Der Sonderling
Arno Schmidt - »Mein Herz gehört dem Kopf«
Es ist nicht so, dass Arno Schmidt (1914-1979) sich für Menschen nicht interessiert hätte. Er ertrug bloß deren Gegenwart nicht. In Oliver Schwehms 60-minütigem Schmidt-Porträt »Mein Herz gehört dem Kopf«, das am Mittwoch zum bevorstehenden 100. Geburtstag des Schriftstellers auf Arte ausgestrahlt wird, erfahren wir zum Beispiel, dass der Einsiedler sich Versandhauskataloge in sein 1959 bezogenes Häuschen in der Lüneburger Heide schicken ließ, um im Bilde über die Bekleidungsvorlieben seiner Zeitgenossen zu bleiben. Überflüssig war dieses Wissen für Arno Schmidt deshalb nicht, weil er es als Stoff für seine Bücher benötigte, die sich durchaus nicht (nur) mit ihm selbst beschäftigten.
Arno Schmidt galt ob seiner Menschenscheu, seiner mürrischen Zurückgezogenheit und seiner pedantischen Arbeitsweise als »Sonderling« mit gewaltiger Aura. In späteren Jahren umlagerten ganze Heerscharen von Journalisten und Schmidt-Pilgern sein mit Stacheldraht umzäuntes Domizil. Jan Philipp Reemtsma, dem reichen Förderer, der den Autor in Bargfeld persönlich treffen durfte, leuchten noch heute die Augen, wenn er von diesen Begegnungen erzählt.
Im literarischen Betrieb der westdeutschen Nachkriegsjahre hatte der aus Schlesien kommende Flüchtling Schmidt indessen zunächst keinen leichten Stand und lebte in bitterer Armut. Sein Buch »Seelandschaft mit Pocahontas« brachte dem eisernen Atheisten eine Anklage wegen Gotteslästerung und Verbreitung unzüchtiger Schriften ein, der er sich mit Hilfe seiner Bewunderer entziehen konnte. Aber auch denen, die glaubten, es gut mit Arno Schmidt zu meinen, wusste er sich charmant zu entziehen. Die auf Martin Walser zurückgehende Einladung in die Gruppe 47 wies er mit der Begründung zurück, er eigne sich nicht als »literarisches Mannequin«. Auch erkundigte er sich, ob man in diesem Zirkel singen müsse - oder »nur nackt vorlesen«.
Peter Hacks, der 1955 aus München in die DDR übergesiedelt war, kommt in Schwehms eindrucksvoller Charakterstudie nicht vor. Aber er, der spätere »sozialistische Klassiker«, dessen literarische Qualitäten ganz anders gelagert zu sein scheinen als jene des akribischen Sprachavantgardisten Arno Schmidt, teilte dem Kollegen 1960 in einem Brief mit: »Tatsächlich sind Sie der einzige Schriftsteller in Westdeutschland (und noch anderen Ländern), den ich gern lese.« Der Brief blieb, selbstredend, unbeantwortet. Nichtsdestotrotz wandte Hacks sich fünf Jahre später mit einer Frage an den westdeutschen Literaturkritiker Hellmuth Karasek: »Wieso gilt ein mediokres Talent wie Herr Grass bei Ihnen als Papst der Epik, während Arno Schmidt seit guten zwanzig Jahren in der Ecke stehen muß, zur Strafe dafür, daß er deutsch kann?«
Oliver Schwehms Film skizziert mittels Archivaufnahmen, Zeitzeugeninterviews, Gesprächen mit Bewunderern (neben Reemtsma kommen Uwe Timm, Wenzel Storch und die französische Autorin Marie Da-rieussecq zu Wort) und Schmidt-Zitaten (zauberhaft kratzbürstig geraunt von der Schauspielerin Mechthild Grossmann) den Weg des Schriftstellers durch die Provinz - und durch literarisches Neuland. Nach harsch-humorigen Abrechnungen mit der Nachkriegsgesellschaft erfand Schmidt in den Kaffs, in denen er lebte, das Genre der »ländlichen Science Fiction«, ehe er 130 000 Notizzettel zu seinem Hauptwerk »Zettel’s Traum« fügte. Das übergroße, nur als Faksimile druckbare Buch, das in vielen Stimmen einen einzigen Tag in Bargfeld schildert, ist bis heute ein literarischer Solitär geblieben. 1973 dafür mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main ausgezeichnet, erschien Schmidt natürlich nicht zur Verleihung, sondern schickte seine Frau Alice. Die »Süddeutsche Zeitung« titelte daraufhin: »Das Gehirntier ist nicht soziabel«.
Heute würde ein Arno Schmidt als Asperger-Autist mit erschwerender Hochbegabung diagnostiziert und integrativen Maßnahmen zugeführt werden. Zu Lebezeiten war er angewiesen auf Förderer wie den Schulleiter Wilhelm Michels. Und seine bedauernswerte Ehefrau Alice, die unhörbar leidend Schmidts Ideal einer Schriftstellergattin erfüllte - sie müsse still bewundern und Maschineschreiben können - und zwei Jahre nach ihm starb. Ein glückliches Leben haben sie wohl nicht geführt.
»Der Künstler«, wird Schmidt zitiert, »hat nur die Wahl, ob er als Mensch existieren will oder als Werk. Im zweiten Fall besieht man sich den Rest besser nicht.« Dass auch »der Rest« das Besehenwerden lohnt, beweist dieser Film aufs Schönste.
Arte, 15.1., 22.35 Uhr. Anschließend für sieben Tage in der arte-Mediathek
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