Nahrung für Spekulationen
Der Fall Kiesewetter: Lässt sich der Heilbronner Polizistenmord im Münchner NSU-Prozess klären?
Der 25. April 2007 war ein ungewöhnlich heißer Tag in Heilbronn. Gegen 14.12 Uhr rief ein Taxifahrer im Polizeirevier an und sagte, ein Radfahrer habe ihm von einem Streifenwagen mit zwei erschossenen Polizisten auf der Theresienwiese erzählt. Das berichtete die Polizeiobermeisterin Kerstin Kind als erste Zeugin im NSU-Prozess am Donnerstag. Zwei Minuten später sei sie mit ihrem Streifenpartner am Tatort eingetroffen. Aufgefunden wurden die beiden Angehörigen der Böblinger Bereitschaftspolizei - Michele Kiesewetter und Martin Arnold. Man habe nur noch den Tod Kiesewetters feststellen können, Arnold, schwer verletzt, habe einmal kurz die Augen geöffnet, aber nichts sagen können. Die Zeugin Kind bestätigte, dass die Waffen der beiden überfallenen Polizisten, ein volles Magazin, eine Handschließe sowie ein Reizstoffsprühgerät verschwunden waren. Die Maschinenpistole im Kofferraum des Fahrzeugs hatten die Täter nicht entwendet.
Als Zeugen geladen waren am Donnerstag weitere Polizisten, darunter Arnold, der aussagte, keine Erinnerungen an den Anschlag mehr zu haben. Einige seiner Kollegen bestätigten, dass die Theresienwiese unter Angehörigen der Böblinger Bereitschaftspolizei als Pausenort bekannt war. Ein weiterer Zeuge berichtete über die Einsatzplanung. Kiesewetter habe sich erst nachträglich auf die Liste setzen lassen. Der Kriminalist hat auch die vorangegangenen Einsätze von Kiesewetter in den Jahren 2006 und 2007 ermittelt. Es handelte sich überwiegend um die Begleitung von Aufmärschen von Rechtsextremisten. Nicht auf der Liste steht ein angeblicher Einsatz, an dem Kiesewetter und Arnold im März 2007 in Potsdam teilgenommen haben sollen.
Es gibt zahlreiche ungeklärte Fragen im Fall Kiesewetter. Doch für die Ankläger der Bundesanwaltschaft wurden Kiesewetter und der überlebende Arnold vom NSU-Trio genauso willkürlich als Opfer ausgewählt, wie die neun Migranten, die nach Ansicht der Ermittler von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Nürnberg, München, Kassel, Dortmund und Rostock umgebracht wurden. Die NSU-Terroristen, zu denen die in München angeklagte Beate Zschäpe gehört, wollten in Heilbronn den Staat und vor allem die von ihnen gehasste Polizei treffen.
Möglich. Möglich aber auch, dass Kiesewetter, die aus Oberweißbach stammt, bewusst ausgewählt wurde. Ausgerechnet in dem Thüringer Ort rotteten sich mehrfach Neonazis zusammen, ein Jahr vor dem Anschlag in Heilbronn fand dort auch ein Neonazi-Konzert statt. Zudem hatte ein Schwager des als NSU-Helfer Angeklagten Ralf Wohlleben in dem Ort eine Gaststätte gepachtet. Doch es gibt auch in Baden-Württemberg Hinweise, dass die junge Polizistin den Terroristen irgendwie zu nahe gekommen sein könnte. Ein Vorgesetzter Kiesewetters soll dem deutschen Ableger der Neonazi-Gruppe Ku-Klux-Klan angehört haben, der offenbar vom Verfassungsschutz in Stuttgart initiiert worden war. Man sei auch den entferntesten Hinweisen nachgegangen, sagt Bundesanwalt Herbert Diemer. Vergeblich, alles entpuppte sich als Spekulation.
Mag sein, doch das, was er Anklage nennt, besteht aus kaum etwas anderem. Dennoch verweigert die grün-rote Landesregierung weiter die Einrichtung eines eigenen Untersuchungsausschusses. Warum? Auch darüber kann man nur spekulieren.
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