Bosniens Sturm - Beginn der Emanzipation

Bevölkerung überwand ihre politische Apathie und blies zu sozialem Protest

  • Krunoslav Stojaković, Belgrad
  • Lesedauer: 4 Min.
Erstmals seit der Unabhängigkeitserklärung 1992 und dem Ende des folgenden Krieges erlebte Bosnien und Herzegowina eine Welle sozialer Proteste.

Seit dem 5. Februar 2014 ist Bosnien-Herzegowina nicht länger nur ein gescheiterter Staat, dessen Struktur kaum mehr war als ein verfehltes Zugeständnis an die nationalistische Kriegszielpolitik der früheren Präsidenten Serbiens und Kroatiens, Slobodan Milošević und Franjo Tuđman. Der Friedensvertrag von Dayton aus dem Jahre 1995 sollte die Zergliederung Bosnien-Herzegowinas nicht nur politisch-strukturell festzurren, sondern er zerfaserte die Bevölkerung des Landes zu Bewohnern zahlreicher administrativer Einheiten, deren Potentaten die soziale Frage nur zu gern in nationalistische Fahrwasser lenkten. Damit verdammten die Politiker die Bevölkerung nicht nur zu politischer Apathie, sondern sicherten sich auch ihre privilegierten Positionen als vermeintliche Vertreter nationaler Interessen in einem der zahllosen, nach nationalem Schlüssel vergebenen Ministerien und Direktoraten.

Die internationale Gemeinschaft, verkörpert durch den Hohen Repräsentanten für Bosnien-Herzegowina, spielte dabei den über den Partikularinteressen stehenden Polizisten, der allen voran die Privatisierungs- und Deindustrialisierungsprozesse überwachte oder in Sonntagsreden allzu ausschweifende nationalistische Exzesse einzelner Politiker rügte.

Dieses apathische Bosnien-Herzegowina hat sich am 5. Februar emanzipiert, und der Motor dieses Emanzipationsprozesses war nicht die mit internationalen Geldern vollgepumpte Hauptstadt Sarajevo, sondern das industrielle Zentrum, die Stadt Tuzla.

Vom Deindustrialisierungs- und Privatisierungsprozess tief getroffen und verarmt (nach offiziellen Angaben stehen 80 000 Beschäftigten im Kanton Tuzla 100 000 Arbeitslose gegenüber), hat sich vor allem die Arbeiterschaft der traditionell klassenbewussten Stadt gegen den sozialen Aderlass organisiert. Eines der Hauptmerkmale dieser Proteste ist folgerichtig die nahezu vollkommene Abwesenheit nationalistischer Parolen, nicht nur in Tuzla, sondern in allen Städten, die sich der Protestbewegung angeschlossen haben.

Massencharakter nahmen die Proteste am 5. Februar an, als sich erstmalig Studierende, Arbeitslose und andere Bürger der Stadt mit den seit über einem halben Jahr protestierenden Arbeitern der ehemaligen Industriegiganten DITA, Polihem (Chemie und Gummi) und Konjuh (Möbel) solidarisierten und vor das Regierungsgebäude des Kantons Tuzla zogen. An diesem ersten Protesttag waren bis zu 1500 Menschen auf der Straße, was die Politiker jedoch nicht dazu veranlasste, das Gebaren der über allen stehenden Mächtigen abzulegen und das Gespräch mit den Demonstrierenden zu suchen. Stattdessen wurde die Polizei angewiesen, mit aller Härte gegen die Bevölkerung vorzugehen. Das Ergebnis waren Dutzende Verletzte und Inhaftierte.

Am Folgetag versammelten sich bis zu 10 000 Menschen vor dem Kantonssitz, bewarfen das Gebäude mit Steinen, Eiern, forderten die Freilassung der Gefangenen, den Rücktritt der Kantonsregierung, die Überprüfung der Privatisierungsbeschlüsse, die Auszahlung ausstehender Löhne und eine grundlegende Umkehr der Wirtschafts- und Sozialpolitik. An diesem Tag solidarisierten sich Menschen aus nahezu allen Städten des Landes mit den Arbeitern Tuzlas. In Sarajevo, Zenica, Bihać und Brčko fanden ebenfalls Demonstrationen mit ähnlichen Forderungen statt, auch dort verweigerten die Regierenden das Gespräch, auch dort flogen Steine, wurden Menschen von der Polizei zusammengeschlagen. Die Zusammenstöße dauerten bis in die Nacht.

Am 7. Februar folgten Demonstrationen nahezu im ganzen Land. Die ausgehungerte Bevölkerung ist nicht willens, sich mit den Ausreden der Politiker zufriedenzugeben, die beteuerten, sie seien an der Situation unschuldig und wollten sich nun der sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes annehmen. Bis zum frühen Abend standen in Tuzla, Zenica und Sarajevo die ersten Regierungsgebäude in Flammen. Auch die Polizei wechselte die Fronten, legte Waffen und Uniformen ab und solidarisierte sich mit den Protestierenden. Die Regierungschefs der Kantone Tuzla und Zenica-Doboj traten zurück, nicht ohne ihre Unschuld zu betonen. Am Sonnabend folgte ihnen der Premier des Kantons Sarajevo.

Der politische Ausgang der Ereignisse bleibt jedoch offen, eine organisierte Gegenöffentlichkeit von links ist nur in Ansätzen erkennbar. Erstmals aber haben sich politische Aktivisten mit streikenden Arbeitern zusammengesetzt und konkrete soziale und ökonomische Forderungen gestellt, allen voran die kritische Überprüfung der Privatisierung wichtiger Industrieunternehmen. Die politische Nachhaltigkeit des Emanzipierungsprozesses hängt auch davon ab, ob sich die Bevölkerung der »Republika Srpska« (Serbische Republik) mit den Protesten im Rest des Landes solidarisiert und politisch radikalisiert. Erste Ansätze in der Entitätshauptstadt Banja Luka oder in Bijeljina sind zwar erkennbar, doch brüstet sich Präsident Milorad Dodik immer noch, seine Regierung löse soziale Fragen institutionell, weshalb es die Bevölkerung in der Republika Srpska nicht nötig habe, auf die Straße zu gehen.

Jedenfalls ist Bosnien-Herzegowina seit dem 5. Februar ein anderes Land: Die Bevölkerung ist bereit, für ihre sozialen Anliegen auf die Straße zu gehen, unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit, auf der sich ihre politische Apathie und der Profit der politischen und ökonomischen Eliten bisher gründete.

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