Die toten Säuglinge vom Lager Kiesgrube
In Dresden soll an Kinder von Zwangsarbeiterinnen erinnert werden
Der Grabstein wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. »Hier ruhen Kinder der Bürger der polnischen Republik und der UdSSR«, ist auf dem Steinblock zu lesen, der unter Kiefern am Rand des Friedhofs St. Pauli im Dresdner Norden steht. Links und rechts des Steins zieht sich ein Streifen Rasen an der Friedhofsmauer entlang, über die Verkehrslärm dringt. Eine Tafel, die Näheres mitteilen würde, suchen Besucher vergebens. Der Stein stamme »aus den 50er oder 60er Jahren«, sagt Jürgen Naumann, der die Geschichte des Stadtteils erforscht und Führungen anbietet. Jahrzehntelang wurde der Grabstein aber wenig beachtet. Die traurige Geschichte hinter der dürren Inschrift sei »brisant«, sagt Naumann, »aber sie ist öffentlich kaum bekannt«.
Erst langsam ändert sich das. Zu verdanken ist das nicht zuletzt Annika Dube-Wnek. Die junge Landschaftsarchitektin gräbt sich seit gut fünf Jahren in ihrer Freizeit durch Akten in Dresdner Archiven. Sie hat dabei Erschütterndes zu Tage gefördert. Bei den Toten, die an der Mauer des Friedhofs verscharrt wurden, handelt es sich um die Kinder von Zwangsarbeiterinnen, die in der NS-Zeit in Betrieben von Dresden und Umgebung eingesetzt wurden. Mehrere Tausend Menschen mussten in der Elbstadt während der 30er und 40er Jahre Zwangsarbeit verrichten. Bekamen die Frauen Kinder, seien diese zumeist »von jeglicher Fürsorge abgeschnitten« worden, sagt Dube-Wnek. Viele der Säuglinge wurden so nur wenige Wochen oder Monate alt. Allein auf dem Friedhof St. Pauli wurden mindestens 225 Kinder begraben - in Pappschachteln, ohne Grabstein und ohne jede Zeremonie.
Dass die toten Kinder ausgerechnet auf dem Friedhof im Dresdner Norden beerdigt wurden, ist kein Zufall. Einige hundert Meter entfernt befand sich am Rand der Dresdner Heide das Barackenlager »Kiesgrube«, das, wie Naumann erzählt, zunächst für den Bau der Autobahn errichtet wurde. Bis März 1943 diente es als Lager für rund 300 verbliebene jüdische Dresdner, die dort interniert waren, während sie in Rüstungsbetrieben wie den Zeiss-Ikon-Werken ausgebeutet wurden. Nachdem auch sie nach Auschwitz deportiert worden waren, suchte die Firma quasi eine »Nachnutzung« - die auch gefunden wurde: Aus dem »Judenlager« wurde ein »Entbindungsheim« für schwangere Zwangsarbeiterinnen.
Der Name, der an Erholung und Pflege denken lässt, war Kalkül, sagt Annika Dube-Wnek. Man habe einen »möglichst beeindruckenden« Titel für eine neue, schändliche Einrichtung gesucht: ein Lager für die Kinder von Zwangsarbeiterinnen. Die Frauen waren zu einer unverzichtbaren Stütze für die NS-Kriegswirtschaft geworden. Schwangerschaften gerieten zunehmend in Konflikt mit nüchternem ökonomischen Kalkül. Waren junge Mütter unter ihnen bis 1942 teils sogar in ihre Heimat zurückgeschickt worden, änderte sich das nun: Nach der Entbindung sollten die Frauen nur möglichst kurze Zeit für die Produktion ausfallen. Überall im Reich wurden Lager wie das in Dresden errichtet; insgesamt 400 soll es gegeben haben. Die Neugeborenen wurden strikt klassifiziert: Kinder, die als »rassisch wertvoll« galten, seien in speziellen Heimen oder deutschen Familien untergebracht worden; alle anderen wurden gezielt vernachlässigt - und damit einem schnellen Tod anheim gegeben.
Welches Ausmaß dieses Sterben annahm, las Dube-Wnek in Sterbeurkunden, die im Dresdner Stadtarchiv zu finden sind. Dort sind allein 214 Todesfälle dokumentiert - bei 500 Geburten im Lager, die dem zuständigen Standesamt angezeigt wurden. Zudem starben Neugeborene in den Unterkünften der Zwangsarbeiterinnen. In 40 Prozent der Fälle lautete die Todesursache »Darmkatarrh«, was sich als Hinweis auf massive Unterernährung deuten lässt. Insgesamt, sagt die Forscherin, seien die Neugeborenen »in jeder Hinsicht unterversorgt« geblieben. Für den NS-Staat, so lasse sich vermuten, seien die Kinder der osteuropäischen Arbeiterinnen »weder in wirtschaftlicher noch in volksbiologischer Hinsicht wertvoll« gewesen. Man ließ sie sterben und verscharrte sie in den meisten Fällen in aller Stille.
An sie erinnert wurde danach lange nicht. Zwar bemühten sich die Behörden schon ein Jahr nach Kriegsende um eine Auflistung der Namen; später wurde der Grabstein auf dem St.-Pauli-Friedhof errichtet. Im offiziellen Gedenken der Stadt spielte das Thema allerdings keine Rolle. Es war dominiert von der Trauer um die Dresdner, die bei den Bombenangriffen auf die Stadt am 13. Februar 1945 ums Leben gekommen waren - auf eine Stadt, die dabei gern als »unschuldige« Kulturstadt apostrophiert wurde.
Erst seit wenigen Jahren und angesichts der von Nazis bei ihren regelmäßigen Aufmärschen propagierten Thesen vom »Bomben-Holocaust« begann sich der Blick auch darauf zu richten, dass Dresden eine funktionierende Metropole im NS-Staat war: mit straffer Gauleitung; mit Kasernen, in denen noch im Frühjahr 1945 Todesurteile wegen Fahnenflucht vollstreckt wurden; mit Gefängniszellen, in denen Regimegegner auf die Hinrichtung unter dem Fallbeil warteten; mit Betrieben, in denen Zwangsarbeiter ausgebeutet wurden - und einem Lager, in dem man mit deren Kindern umsprang, als wären sie wertlos. Heute weist nicht nur Helma Orosz, die Oberbürgermeisterin, regelmäßig darauf hin, dass die Zerstörung der Stadt Folge eines Krieges war, der von Deutschland ausging und für den man auch in Dresden arbeitete: »Man darf«, sagt die CDU-Politikerin, »nicht vergessen, wie es zur Katastrophe kam.«
Es ist deshalb als durchaus symbolträchtig anzusehen, dass - vor dem Erinnern an die Toten der Bombennächte, das heute die Stadt beherrscht - vergangene Woche mehr als 50 Menschen eine Veranstaltung zum Gedenken an die toten Kinder des Lagers »Kiesgrube« besuchten. Es sind Kinder, deren Biografien heute auch Schüler an Dresdner Gymnasien erforschen. Viele Fragen, sagt Annika Dube-Wnek, blieben dennoch offen, etwa die nach den Schicksalen überlebender Kinder, die sich 70 Jahre später nur noch mühsam klären lassen. Die Autoren einer MDR-Dokumentation spürten beispielsweise eine Rentnerin in der Ukraine auf, die bis dahin nicht gewusst hatte, dass sie während der Zwangsarbeit ihrer Mutter in Sachsen zur Welt gekommen war. Vermutlich leben heute noch immer Kinder aus den Lagern in deutschen Familien, ohne ihre Herkunft zu kennen.
Dank der Forschungen von Dube-Wnek und anderen ist man sich ihrer Schicksale zumindest in Dresden wieder bewusst - und will das Gedenken nun auch würdiger gestalten. Geplant ist neben dem Grabstein mit der eher dürftigen Inschrift ein angemessener Gedenkort, der zum Beispiel alle bisher bekannten Namen erwähnt. Ideen zu dessen Gestaltung, die der Verein Arbeit, Jugend, Bildung e.V. umsetzt, entwickeln derzeit auch Dresdner Schüler. Für die Finanzierung sollen Bundes- und städtische Gelder verwendet werden; daneben bitte man um Spenden von Bürgern, Stiftungen und Sponsoren, wie das Rathaus mitteilt. Eingeweiht werden könnte der Ort im Mai 2015.
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