Facettenreicher als nur ein Genosse der Bosse

Gerhard Schröder: »Klare Worte«, im Gespräch mit Georg Meck

  • Gabriele Oertel
  • Lesedauer: 6 Min.

Nein, von irgendwelchen Zweifeln ist Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder nicht geplagt. Aber wer hätte dies auch wirklich erwartet? All jene, die ihm nach der Vorstellung seines Interview-Bandes »Klare Worte« vorwerfen, dass er an seiner Agenda 2010 festhält, haben nicht nur vergessen, mit welch tiefer Überzeugung er die sogenannten Arbeitsmarktreformen einst bis hin zum tränenreichen Verzicht auf den SPD-Vorsitz »durchzog« - sie verstehen vor allem die Regeln des Alterns nicht. Ein fast 70-Jähriger, der sich mit diesem Buch zum Jubiläumsgeburtstag selbst beschenkt, will freilich nicht nur mit seinem jugendlich-frechen Rütteln an den Toren des Kanzleramtes irgendwann in die Geschichtsbücher eingehen. Und schon gar nicht den peinlichen Abgang am Wahlabend 2005 vor einem Millionenpublikum als Schlusspunkt seiner Karriere gelten lassen.

Das wäre auch ungerecht. Denn in den sieben Jahren seiner Kanzlerschaft ist viel geschehen. So viel, dass seine SPD sich bis heute davon nicht erholt hat. Und Rot-Grün - das mit der Teilnahme am völkerrechtswidrigen Krieg in Jugoslawien seine Jungfräulichkeit verlor und nach Hartz I bis IV vorzeitig in den Ruhestand geschickt wurde - den Wählern seit nunmehr fast zehn Jahren nicht als Alternative zu Angela Merkel gilt.

Aber Schröder sieht das natürlich völlig anders: »Was Rot-Grün unter meiner Führung gemacht hat, das kann sich sehen lassen. Nicht nur in der Außenpolitik und bezogen auf die Agenda 2010. Wir haben die Gesellschaft insgesamt modernisiert und geöffnet. Denken Sie etwa an die Integrationspolitik, den Atomkonsens oder auch die eingetragene Lebenspartnerschaft für Schwule und Lesben«, antwortet er an einer Stelle dem Journalisten Georg Meck von der »FAZ«, der sich über die 238 Seiten als kritischer Fragesteller und beharrlicher Nachfrager erweist.

Und der Altkanzler, der so auf keinen Fall angesprochen werden will und weit von sich weist, dass Politik eine Droge sei, von der man nicht lassen könne, redet sich mit der Aufzählung der Erfolge die Vergangenheit tatsächlich nicht nur schön. Es darf eben nicht vergessen werden, wie das Land am Morgen des 28. September 1998 spürbar aufgeatmet hat. Da lagen 16 lange und zunehmend lähmende Jahre Helmut Kohl hinter ihm, da gab es Hoffnungen, Erwartungen, Neugier und endlich auch wieder so etwas wie Lust auf und an Politik bei Millionen Menschen. Ein Bündnis für Arbeit zwischen Gewerkschaften und Wirtschaft wurde - bekanntlich schließlich erfolglos - anvisiert, das Staatsbürgerschaftsrecht modernisiert, die Ökosteuer auf den Weg gebracht. Der sozialdemokratische Kanzler verbreitete eine neue und durchaus wohltuende Dynamik, sprach verliebt von der Neuen Mitte und »rettete« höchstselbst vorübergehend die Arbeitsplätze beim Baukonzern Holzmann.

Mit Tony Blair spielte er Tennis und gewann prompt, obwohl der britische Premier eine Trainerin an seiner Seite hatte. Mit Jacques Chirac war das deutsch-französische Einvernehmen so gut, dass man sich auch mal gegenseitig auf EU-Gipfeln vertrat. Und auf Wladimir Putin lässt er sowieso nichts kommen. Keine Frage, dieses tolle Gefühl, in der ersten Liga mitzuspielen, ist dem Mann bis heute gegenwärtig. Dieses Macher-Image, zu dem er sich immer wieder mit Blick auf seine persönliche Entwicklung »von ganz unten« bis an die Spitze des Landes bekennt, hat ihn nicht verlassen. Ebenso wenig wie die feste Überzeugung, es eben einfach besser als andere zu wissen und zu können.

Was ihn auch nach der Bauchlandung von 2005, die Schröder zwar eingestandenermaßen nach der bombastischen Aufholjagd im Wahlkampf ziemlich kalt erwischte, mitnichten daran hindert, die Politik seiner Nachfolger in Kanzleramt und Willy-Brandt-Haus kritisch unter die Lupe zu nehmen. Die Pirouette von Kanzlerin Angela Merkel in Sachen Atomausstieg, das »erbärmliche« Management der Energiewende bekommen ebenso ihr Fett weg wie die ewig Uneinsichtigen in seiner Partei, die die Erfolge seiner Agenda immer noch verleugnen. »Hätten wir die Erfolge der Agenda 2010 für uns reklamiert, dann wäre die SPD die erfolgreichste sozialdemokratische Partei in Europa«, ist sich Schröder sicher. Aber der Widerspruch zwischen der reinen Lehre und der Realität als Regierungspartei habe die SPD schon immer geprägt, bedauert der Kanzler a. D. - wie auch die Tatsache, dass die Seinen der Union die Früchte der Agenda-Reform überlassen haben, statt sich selbst damit zu brüsten. Schlimmer noch: Diesen fundamentalen Fehler wollen einige immer noch nicht einsehen.

Wer allerdings glaubt, Gerhard Schröder habe unter Zuhilfenahme eines Fragestellers nur einen Tritt nach hinten verfasst, irrt. Dazu sind seine in zugegeben sehr staatsmännischem Ton dargebotenen Anforderungen an eine künftige Europa- und Geopolitik zu ernsthaft, die Gedanken um die Zukunft des Landes wie der Partei zu nachhaltig - wenngleich freilich immer auch von der Sorge getragen, dass die eigenen Spuren in der Politik durch die Nachfolger verwischt werden.

Schröder gibt eben nicht nur, wie der Verlag hervorhebt, »aus der Nähe gewonnene, faszinierende Einblicke in Mechanismen der Macht, spricht über die Chancen der Großen Koalition und macht sich grundsätzliche Gedanken darüber, was es bedeutet, zu führen und die Zukunft Deutschlands zu gestalten«. Hier will vielmehr offensichtlich einer seine Erbschaft anmelden und womöglich - an ausreichend Selbstbewusstsein hat es ihm ja nie gefehlt - von einem anderen sozialdemokratischen Regierungschef, der ihm stets als Vorbild galt und auf den die von ihm verpönte Bezeichnung Altkanzler tatsächlich treffender passt, das Amt des Übervaters der SPD übernehmen. Dass er dabei immer wieder auch auf seine eigene Geschichte verweist und trotz aller Eitelkeit durchaus auch zu Selbstironie fähig ist, macht den Gesprächsband wirklich unterhaltsam und lesenswert.

Der Mann, der Rede und Antwort steht, hat eben weit mehr Facetten, als es mit dem Begriff vom »Genossen der Bosse« umrissen wäre. Da ist der nachdenkliche und sogar einsichtige Gerhard Schröder, der sich ganz bewusst und schnell eine neue Aufgabe bei der Pipelinegesellschaft Nord Stream gesucht hat, weil 61 kein Alter sei, in dem man in Rente geht: »Über das Tempo des Wechselns lasse ich mit mir reden. Vielleicht wäre eine gewisse Karenzzeit besser gewesen.« Da ist aber auch der Haudegen, der sich schon als junger Bundestagsabgeordneter vor den Konservativen nicht duckte, wie das nach seiner Beobachtung manche in der SPD tun. Grund dafür ist Schröders feste Überzeugung: »Alles, was ich geworden bin, habe ich aus eigener Kraft geschafft.« Und wenn der Ex-Kanzler gerade deshalb ganz am Schluss bedauert, dass Karrieren wie die seine in der heutigen Bundesrepublik nicht mehr möglich seien, weil die Zeiten wie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg längst vorüber sind, da der Zugang zu Wissen allen Schichten gleichermaßen offenstand - dann nimmt man ihm das einfach mal ab. Die Bestandsanalyse. Und auch sein Bedauern darüber.

»Klare Worte - Gerhard Schröder im Gespräch mit Georg Meck über Mut, Macht und unsere Zukunft«, Herder, 238 S., 19,99 Euro

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