»Das ist jetzt nur noch Quälerei«
Plädoyer für eine ärztliche Sterbehilfe
Im September 1939 gab Sigmund Freud auf. Der Mundkrebs verzehrte ihn von innen. »Das ist jetzt nur noch Quälerei und hat keinen Sinn mehr«, sagte er zu seinem Arzt Max Schur, diesen an ein altes Versprechen erinnernd. Schur beriet sich mit Freuds Tochter Anna, die zögernd zustimmte. Dann hielt er sein Versprechen und spritzte dem Freund und Lehrer eine tödliche Dosis Morphium.
Jahrzehnte später schrieb Walter Jens in dem gemeinsam mit Hans Küng verfassten Buch »Menschenwürdig sterben«: »Millionen Menschen könnten, wie Hans Küng und ich, gelassener ihrer Arbeit nachgehen, wenn sie wüßten, daß ihnen eines Tages ein Arzt wie Dr. Max Schur zur Seite stünde.« Doch Jens selber fand keinen solchen Arzt, oder er verpasste den Zeitpunkt. Er versank im Abgrund der Demenz und machte seine Frau Inge nach deren eigenen Worten zur »Witwe eines Lebenden«. Für viele ist das eine Horrorvorstellung, die den Wunsch nach einem Arzt wie Max Schur verständlich macht.
Allerdings ist hier eine Begriffsklärung notwendig: Was Schur bei Freud praktizierte, war »aktive Sterbehilfe« oder »Tötung auf Verlangen«. Die galt damals wie heute nicht nur als standesrechtlich verwerflich, sondern war und ist auch nach §216 StGB strafbar - wie ich finde, mit Recht. Die Diskussion, ob das erlaubt sein sollte, halte ich für eine Scheindebatte. Selbst wenn es erlaubt wäre, würden sich kaum Ärzte dafür finden.
Worum es den meisten geht, ist nicht die aktive Sterbehilfe, sondern ärztliche »Beihilfe zur Selbsttötung«, also das Verschreiben lebensbeendender Mittel. Die Gesetze verbieten weder die Selbsttötung noch die Beihilfe dazu, auch nicht das Verschreiben solcher Mittel. Was dem entgegensteht, ist allein das ärztliche Standesrecht.
So kam es denn zum Drama um den Schriftsteller Erich Loest. Er lag im Krankenhaus und wollte sterben. Wie Freud empfand er das Leben nur noch als Quälerei. Kann man glauben, dass er, der Wortgewaltige, keinen der Ärzte um Hilfe bat? Und doch war da keiner, der ihm half. So sah er keinen anderen Weg, als sich aus einem Fenster im zweiten Stock zu stürzen - ein gewalttätiger Akt, der neben dem Körper vielleicht auch das Gesicht verstümmeln würde. Dazu das Risiko, nicht gleich zu sterben, sondern vielleicht Monate auf einer Intensivstation zu liegen, am Leben gehalten durch Schnüre, Sonden, Katheter.
Und doch nahm Loest das auf sich und sprang aus dem Fenster des Krankenhauses. Ich sehe darin einen letzten Protest gegen ein Medizinsystem, das stets vom mündigen Patienten redet, doch im entscheidenden Moment diese Mündigkeit nicht akzeptiert. Wie Loest Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS), regte ich beim VS-Vorstand an, auf der Gedenkfeier für Loest auch über die Verweigerung ärztlicher Sterbehilfe zu sprechen. Die Organisatorin der Gedenkfeier lehnte das »aus Rücksicht auf die Angehörigen« ab. Die Diskussion um die Sterbehilfe, so meinte sie, müsse »in den Gremien geführt werden«. Und ich fragte mich: Was sind das für Schriftsteller, die das Nachdenken über eine solche zentrale Frage den »Gremien« überlassen?
Immer wieder sehen verzweifelte Menschen, die den Tod suchen, keinen anderen Weg, als aus Fenstern zu springen (wie Erich Loest oder Margot Werner), sich zu erschießen (wie Gunter Sachs oder Wolfgang Herrndorf) oder vor einen Zug zu werfen (wie Robert Enke). So finden sie den Tod, aber sie fügen auch anderen Menschen tiefes Leid zu. Sogar der Theologe Hans Küng meint, dass Sterbehilfe in solchen Situationen ein »gottgefälliges Werk« sein könne. Dürfen wir Ärzte uns da einfach abwenden und auf den Eid des Hippokrates oder die Berufsordnung pochen? Oder gebetsmühlenartig auf die Möglichkeiten der Palliativmedizin verweisen?
Aber wir sind ja nicht nur Heiler, die zum Erhalt von Leben und Gesundheit verpflichtet sind. Sondern wir nehmen auch quasi-hoheitsrechtliche Funktionen wahr: Ärzte sind staatlich konzessionierte Wächter, die den Zugang zu den verschreibungspflichtigen Mitteln verwalten. Was können und sollen wir in dieser Doppelfunktion tun?
Die 2012 beschlossene Muster-Berufsordnung der Bundesärztekammer (BÄK) sagt in §16: »Ärzte dürfen keine Beihilfe zur Selbsttötung leisten.« Aber die BÄK ist formal nur ein privatrechtlich organisierter Verein, gebildet von den Landesärztekammern. Für die Ärzte maßgeblich sind allein die regionalen Berufsordnungen - und da herrscht im Blick auf die Sterbehilfe ein unhaltbarer Zustand: Von den 17 Kammern haben zehn das Sterbehilfe-Verbot der BÄK übernommen, sieben hingegen nicht. So entscheiden vielerorts wenige Kilometer, ob ein Arzt mit der Verschreibung lebensbeendender Mittel seine Approbation riskiert.
In Sachsen-Anhalt gilt: »Der Arzt darf das Leben des Sterbenden nicht aktiv verkürzen«, was das Verschreiben letaler Mittel nicht explizit untersagt. Im benachbarten Sachsen ist den Ärzten jegliche Suizid-Beihilfe strikt verboten. Hätte Erich Loest in einem Krankenhaus in Halle gelegen, so hätten ihm die Ärzte vermutlich helfen können. Die Kollegen in Leipzig hingegen hätten ihren Job aufs Spiel gesetzt, wenn sie ihn mit einer geeigneten Verschreibung nach Hause geschickt hätten.
Im Grunde ist dieser Zustand ein Skandal, und zwar umso mehr, als inzwischen ein richtungweisendes Urteil des Berliner Verwaltungsgerichtes dazu vorliegt (Az. 9 K 63.09 vom 30. März 2012). Die Berliner Ärztekammer hatte dem Urologen Uwe Christian Arnold, einem der exponiertesten Befürworter ärztlicher Sterbehilfe, genau das in einem konkreten Fall untersagt, und zwar bei Androhung einer Strafe von 50 000 Euro. Das Urteil (gegen das keine Berufung eingelegt wurde) erklärt das für unrechtmäßig und stellt fest: »Die Untersagungsverfügung verstößt aber jedenfalls gegen höherrangiges Recht, soweit sie die Weitergabe todbringender Substanzen an Suizidwillige ausnahmslos verbietet«. Mit anderen Worten: Es bestehen begründete Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 16 der Muster-Berufsordnung.
In dieser Situation - auch im Blick auf die bevorstehende Diskussion im Bundestag - muss die Frage der Sterbehilfe erneut in der Ärzteschaft diskutiert werden, und zwar nicht nur in den Gremien, sondern in aller Breite. Natürlich soll niemand gezwungen werden, gegen sein Gewissen todbringende Mittel zu verschreiben. Aber denjenigen, die dazu bereit sind, darf nicht länger mit dem Knüppel des Standesrechtes und dem Entzug der Approbation gedroht werden.
Und was ist mit den »Sterbehilfe-Organisationen«, die verboten werden sollen? Die Antwort fällt leicht: Wenn jeder, der mit guten Gründen aus dem Leben gehen will, einen Arzt finden kann, der ihm die Mittel dafür verschreibt, brauchen wir solche Organisationen nicht mehr. Solange das nicht der Fall ist, sind sie offenbar notwendig.
Dr. med. Hanjo Lehmann, geb. 1946, ist Arzt und Schriftsteller sowie Initiator der »Arbeitsgemeinschaft Ärztliche Sterbehilfe«. Er studierte im ersten Studium Philosophie, im zweiten Medizin, und promovierte bei Prof. Dietrich Grönemeyer über »Vorstudien zu einer Evidenz-basierten Akupunktur«. Zu seinen Publikationen gehören Romane wie »Die Truhen des Arcimboldo«, Fachbücher wie »Akupunkturpraxis - Chinesische Standardtherapie mit Relevanzkarten« sowie Zeitschriftenbeiträge wie »Akupunktur im Westen: Am Anfang war ein Scharlatan« (im Deutschen Ärzteblatt).
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