Einhörner und Gurkenpiraten
Kinder lieben Geschichten und denken sich gern welche aus. Der Verein Buchkinder Leipzig e.V. hilft ihnen, Bücher daraus zu machen. Von Anke Engelmann
Sieben Kinder, sieben Geschichten: von einer Meerjungfrau, deren Mama von den Wassergurkenpiraten entführt wurde, handelt die von Dalma. Von zwei Eichhörnchen, die ein Fuchs in seiner Gewalt hat und braten will, die von Elisabeth. Von einem Drachen und einem Zaubertrank, die von Maja. Charlize schneidet einen Fliegenpilz aus für ihr Buch von Herrn Lustig und Herrn Traurig. Joona malt sorgfältig Dinosaurier. Wie aus dem Lexikon sehen sie aus. »Ich mach eine Geschichte«, sagt Tarik. Und Emmas Bild zeigt ein Einhorn unter einem Regenbogen.
In der alten Post in Leipzig Lindenau betreibt der Verein Buchkinder Leipzig seine Buchmanufaktur. Heute ist Geschichten-Abend. Charlize, Joona, Dalma, Elisabeth, Maja, Emma, Tarik und drei Erwachsene sitzen um einen riesigen Holztisch, auf dem eine Kerze flackert. Stifte liegen hier und Stapel von Papier. Betreuerin Steffi König hockt neben dem jüngsten Buchkind. Maja kann noch nicht richtig schreiben. Deshalb notiert Steffi König die Geschichten, die aus der Vierjährigen nur so heraussprudeln. Die junge Frau schreibt genau so, wie Maja erzählt. Sie glättet nicht, formuliert nicht erwachsenengerecht um. Manchmal nur stellt sie eine Frage.
Geschichten wachsen hier und werden zu Büchern, vom Anfang bis zum Ende von Kindern gemacht: geschrieben, gemalt, gedruckt und gebunden. Jeden Schritt bis zum fertigen Buch stimmen die Erwachsenen mit den jungen Künstlern ab. Die wissen genau, was sie wollen und achten unerbittlich darauf, dass alles genau ihren Vorstellungen entspricht. So entstehen Kunstwerke, bei denen Bild und Text eine Einheit bilden. Jedes einzigartig und beeindruckend, jedes originell und so unterschiedlich wie seine Schöpfer. Jedes Buch braucht seine Zeit, lautet dabei die wichtigste Buchkind-Regel. Manche Kinder arbeiten ein halbes, manche ein ganzes Jahr, bis ihr Buch fertig ist.
Auch sehr kleine Mädchen und Jungen. Wer noch nicht schreiben kann, lernt das mit der Anlauttabelle nach Jürgen Reichen, einem Reformpädagogen aus der Schweiz. Darauf sind den Phonemen Bilder von Tieren oder Gegenständen zugeordnet, die mit diesem Laut beginnen: »Pferd« zum Beispiel für »PF« oder »Ente« und »Esel« für das lange und das kurze E. Mit dieser Methode können auch Kleinere fast sofort losschreiben, erläutert Steffi König. Allerdings: Die Methode ist umstritten, ihre Anwendung in der Grundschule wird heftig kritisiert.
Das Falsche präge sich ein, sagen die Kritiker dieser Methode. Und dass zum Schreibenlernen viel Übung gehöre. Vor allem Lernschwächere oder Kinder mit einer anderen Muttersprache tun sich schwer damit, die erlernten Wort-Bilder zu korrigieren, warnen Entwicklungspsychologen. Doch bei Kindern, die aus der Mittelschicht stammen und denen zu Hause viel vorgelesen wird, kann das Schreibenlernen mit Hilfe der Anlauttabelle ein unglaubliches Potenzial zum Vorschein bringen, der Kreativität einen Rahmen geben. Vielleicht liegt die Lösung darin, nicht alle Kinder über einen Kamm zu scheren? Bei den Buchkindern jedenfalls scheint die Methode gut zu funktionieren. Sogar die Kleinen können schon schreiben und lesen.
Die eigenwillige Rechtschreibung trägt zudem erheblich zum Charme der Texte bei und bezaubert auch überzeugte Anhänger des Gleich-richtig-schreiben-Lernens. In krakeliger Kinderschrift verfasste Minigeschichten wie die von Frau Erna, die im Sauerkrautfass stecken geblieben ist und seitdem eine Holzunterhose trägt, sind Dauerseller des Buchkinder-Sortimentes. Auf Messen und Märkten wie der Buchmesse Leipzig gehen die Postkarten und Kalender weg wie warme Semmeln.
Der Verein bietet den Kindern die Möglichkeit, kreativ zu sein. Und er lebt davon. Sieben Festangestellte, Miete, Material, Geräte, Strom, Farben, Papier, Reparaturen, Transportkosten - wo kommt das Geld her? Aus Spenden, von 150 Fördermitgliedern, der Stadt, Stiftungen und der Arbeit der Ehrenamtlichen. Und dem Verkauf von Buchkinder-Motiven auf Kalendern, Postkarten und T-Shirts. Der Verein bietet zudem Seminare, in denen künftige Buchkinder-Projektleiter ausgebildet werden. Nach und nach ist so ein Netzwerk entstanden, das heute bundesweit 13 Zweigstellen in Städten wie Dresden, Berlin, Köln oder Düsseldorf umfasst. Sogar in Frankreich und Kenia haben die Buchkinder ihre Spuren hinterlassen. Buchkinder e.V. ist Autorenwerkstatt und Verlag, präsentiert seine Produkte auf Buchmessen und veranstaltet Lesungen - auch an ungewöhnlichen Orten.
Und ist ein Raum, in dem Kinder ernst genommen werden. »Aus einer Freiwilligkeit heraus können sie eigene Interessen entfalten, in einer Kombination aus Handwerk und Künstlerischem«, fasst Geschäftsführerin Birgit Schulze Wehninck zusammen. Eine Chance, die Gesellschaft zu verändern, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten zu gestalten, so sieht sie ihre Arbeit. 12 Jahre existiert der Verein, von persönlichem Engagement getragen, das oft an Selbstausbeutung grenzte.
Nicht immer war die Arbeit leicht. So brauchte der Verein 2012, nach Abschaffung der öffentlich finanzierten Kommunal-Kombi-Stellen, dringend einen »Rettungsschirm«, so ein Spendenaufruf aus dieser Zeit. 70 Prozent der Arbeitsplätze waren gestrichen, Fördergelder um 80 Prozent gekürzt worden, heißt es darin. Der Verein hat sich aufgerappelt, sich neu strukturiert, aufs Wesentliche konzentriert - die Arbeit mit den Kindern. Dazu Kooperationen mit Schulen und Kindergärten aufgebaut. Und im März 2013 eine Kita eröffnet, bei der er selbst als Träger fungiert, als Arbeitgeber und Bauherr. In der Josephstraße, nur wenige Straßenzüge entfernt, steht das Resultat dieser Kraftanstrengung, ein moderner, heller Neubau. Hier riecht alles nach Kreativität. An einer Leine trocknen Bilder, Holzstufen führen zu den Werkstätten für Sieb- und Linoldruck, die Treppen können auch als Sitze eines Amphitheaters benutzt werden.
Der Kindergarten leistet Kinder- und Stadtteilarbeit zugleich, erläutert Sven Riemer, der sich mit Birgit Schulze Wehninck die Geschäftsführung teilt. Riemer war lange bei der Lindenauer Stadtteil-Initiative Nachbarschaftsgärten aktiv. Buchkinder e.V. und die Initiative hatten ein Auge auf dasselbe Grundstück geworfen. Die Buchkinder-Leute wollten die Kita, die Nachbarschaftsgärten-Gruppe wollte Leuchtturmprojekte, die Lindenau schöner machen, kleinteilige Mosaiksteine, eine Spielstraße zum Beispiel. Verein und Initiative taten sich zusammen. Der respektvolle Umgang mit den Kindern habe ihn bewogen, einzusteigen und Verantwortung zu übernehmen, sagt Riemer. Heute ist die Kita nicht nur Ausdruck eines pädagogischen Konzeptes, das die Kreativität von Kindern stärken und fördern will. Sie zeigt zugleich das Anliegen des Vereins, mit kleinen Schritten die Gesellschaft zu verändern. Und zwar im unmittelbaren Lebensumfeld.
Lindenau - ein altes Arbeiterviertel. Industriegebiete lagen hier und im benachbarten Plagwitz. Heute wirkt die Gegend, als wäre die Zeit stehen geblieben: Helmholtzplatz-Feeling, Berlin Prenzlauer Berg, Anfang der 90er. Durch die Lützner Straße quälen sich lautstark Straßenbahn und Feierabendverkehr. In den Seitenstraßen schlummern verwahrloste Gründerzeithäuser, Straßen und Bürgersteige sind huckelig und buckelig, in Brachen oder Bombenlücken blühen Schreber- oder Nachbarschaftsgärten. Soziokultur lebt in den Nebenstraßen, wie zum Beispiel das Casablanca, ein selbstverwaltetes Haus mit Stadtteiltreff.
Selbst tätig werden und das Lebensumfeld gestalten - genau darin steckt auch ein Dilemma. Das Engagement seiner Bewohner macht das Viertel attraktiv. Kreative ziehen her, das lockt die gut betuchte Mittelschicht an, Investoren kommen. Ein Kreislauf von Modernisierung und Privatisierung droht, der die einst günstigen Wohnungen immer teurer macht, unbezahlbar für sozial Schwache. Am Ende steht meist die Verdrängung der Alteingesessenen. Diese Aufwertung von Stadtvierteln, Gentrifizierung genannt, ist aus Gegenden wie dem Berliner Prenzlauer Berg nur zu gut bekannt.
Auch Lindenau wird mehr und mehr zum Geheimtipp. Zwar sind die Wohnungen noch vergleichsweise günstig. Doch schon haben viele Künstler hier ihre Arbeits- und Heimstätten. Die alte Baumwollspinnerei gilt als bedeutendes Zentrum der modernen Malerei. Sven Riemer ist sich der Gefahr durchaus bewusst. »Aber wir begleiten den Prozess«, sagt er. »Die Veränderungen kommen irgendwann, so oder so. Aber wir, wir reden ein Wörtchen mit dabei.« Er lehnt sich zurück: »Auf alle Fälle haben wir ein paar Pflöcke eingeschlagen.«
Auf dem großen Holztisch ist die flackernde Kerze ein ganzes Stück heruntergebrannt. Kreuz und quer liegen beschriebene und bunt bemalte Blätter. Zwei Stunden lang haben die Kinder konzentriert gearbeitet, geschrieben und geträumt. Zum Abschluss erzählt jedes, was es heute gemacht hat, hält Bilder hoch, erklärt. Nur Joona will nichts sagen, niemand drängt, sein Nein wird akzeptiert. Alle haben rote Wangen, sind müde, aufgekratzt oder beides zugleich. Stolz ist zu spüren, Vorfreude auf das eigene Buch, dem sie heute ein Stück näher gekommen sind. Und das etwas enthalten wird, was nur ihnen gehört und unglaublich wichtig ist: Eichhörnchen, Meerjungfrauen, Dinos und Einhörner unter kribbelbunten Regenbögen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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