Rechtsstaat oder Scharia?

In Libyen wird eine verfassunggebende Versammlung gewählt, doch ihre Bestimmung ist offen

  • Mirco Keilberth, Tripolis
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung vom vergangenen Donnerstag werden am Mittwoch in einigen Orten im Osten und Süden Libyens wiederholt. 54 000 Sicherheitskräfte hatten die Wahllokale im ganzen Land bewacht, in Derna, Murzuk und Obari konnten Wähler ihre Stimme jedoch nicht abgeben. Islamisten und die Minderheiten der Tobu und Berber lehnten den Wahlgang ab.

Die 60-köpfige Verfassungskommission hat den Auftrag, innerhalb von drei Monaten einen Grundgesetzentwurf auszuarbeiten, über den eine Volksabstimmung abschließend entscheidet.

Obwohl Libyen damit ein demokratisches Grundgesetz erhalten soll, ist von politischer Aufbruchstimmung wenig zu spüren. Nach dem politischen Chaos der letzten Monate ließen sich nur 1,1 von 3,4 Millionen Wahlberechtigten für den Urnengang registrieren, 500 000 gaben tatsächlich ihre Stimme ab. »Dieses Gremium wird uns nicht repräsentieren«, betont Ayoob Sufyan, ein Berber-Aktivist aus Zuwara, die reservierte Haltung der nicht-arabischen Minderheit.

Der Rat der sieben libyschen Berberstädte beschloss genau wie die Volksgruppe der Tobu, die Wahl zu boykottieren. Sufyan fordert ein Vetorecht der Minderheiten in allen Fragen der zukünftigen Identität Libyens. »Die damalige Zwangsarabisierung unter Muammar al-Gaddafi und der gegenwärtige Aufstieg der Islamisten haben uns misstrauisch gemacht. Mit nur sechs Vertretern in der Verfassungskommission haben die drei Minderheiten keine Chance gegen die religiösen Extremisten, die im Kongress das Sagen haben und deren Milizen die Straßen kontrollieren.«

Während die Berber ein eigenes Parlament gründen wollen und ihre beiden Plätze vorläufig unbesetzt lassen, hatten sich die Kandidaten der Touareg trotz heftiger Kritik am Wahlsystem für eine Teilnahme entschieden. Um die Sitze des Verfassungsgremiums bewarben sich 650 Kandidaten, der Anteil an Frauen und ethnische Minderheiten wird regional über Quotenschlüssel ermittelt.

Die Kandidaten traten offiziell parteiunabhängig an, sind aber häufig mit einem der beiden politischen Lager verbunden, die sich in den letzten Monaten gebildet hatten. Die liberale Parteienallianz von Mahmoud Jibril steht der religös-konservativen Gruppierung der Muslimbrüder und mit ihnen verbündeten Milizen gegenüber.

»Einer der Hauptgründe für das Nachkriegschaos war die Gründung von Parteien ohne jede Sicherheit oder Verfassung. Libyen hatte im Sommer 2012 mehrheitlich moderate Kräfte gewählt, aber viele der Neupolitiker haben sich als Lobbyisten in eigener Sache oder im Dienste ausländischer Interessen erwiesen«, so Aktivistin Nada Ebkora aus Bengasi.

In Zauwia, Sebha und anderen Städten haben Bürgerkomitees die Büros sämtlicher Parteien voriges Jahr aus Protest geschlossen. Viele Libyer haben genug von der politische Pattsituation, die durch zahlreiche Forderungen lokaler Gruppen vor allem in Ostlibyen zur Zeit unauflösbar scheint.

Ihnen fiel es schwer, die weitgehend unbekannten Bewerber politisch einzuordnen. »In unseren Talkshows beklagten viele Anrufer, weder zu wissen, wer die Kandidaten sind, noch wofür sie stehen«, sagt der Nachrichtenchef des TV-Senders Al Assema, Fatih bin Issa. Das schwer bewachte Gebäude von Al Assema wurde am Morgen des Wahltages attackiert. Faustgroße Einschusslöcher in der drei Meter hohen und mit Stacheldraht bewehrten Außenmauer zeugen von dem Moment, als 100 Maskierte wie aus dem Nichts angriffen.

Die Moderatoren gehen in einem ausgebrannten Studio live auf Sendung. Die Gemütslage des jungen Journalisten kann man vielleicht mit angespannt bis trotzig beschreiben. »Es sind unsere offene Berichterstattung und Kritik an den religiös-konservativen Milizen, die uns immer wieder zum Ziel machen«, sagt Redakteur Jamal Beleid resigniert.

Zweimal in einer Woche kündigten dem Jibril-Lager zugehörige Militärs an, den Nationalkongress auseinanderzujagen. Zweimal blieb es bei der Ankündigung. »Drohkulissen aufzubauen gehört mittlerweile zum politische Alltag, aber auch Entführungen und Morde«, sagt Moderator Beleid. Eine Abstimmung zur Auflösung der sogenannten Qaa-Qaa-Miliz musste am Sonntag abgebrochen werden, nachdem in nächster Nähe immer wieder Schüsse gefallen waren.

Mit Übergriffen rechnen politische Aktivisten und Journalisten täglich. Ende 2013 wurde Radwan Ghariani, der Manager von Tripoli FM, umgebracht. Der unter jungen Leuten beliebte Hauptstadtsender hat sich auf englische Moderationen und Popmusik spezialisiert. »Auch ohne Bekennerbrief verstehen wir die Botschaft dieses Attentates«, sagt sein Freund und Mitgründer Rabei Dahan. »Wir sind unpolitisch und lesen nur Kurznachrichten vor. Aber auch Kunst oder Musik sind wieder gefährlich.«

»Einige wenige Radikale sind die wahren Machthaber im neuen rechtsfreien Libyen«, sagt Mohamed, ein Aktivist aus Bengasi.» Obwohl die absolute Mehrheit im Land moderat konservativ ist und einen Rechtsstaat anstrebt.« Der Radiomoderator möchte seinen Namen lieber nicht veröffentlicht sehen. Dieser steht nämlich schon auf der schwarzen Liste einer der mächtigsten Milizen in Bengasi. »Deren Anführer nehmen es uns übel, dass wir zu Bürgerprotesten gegen Anschläge und Gewalt in der Stadt aufgerufen hatten.«

Ein Jahr lang hatte Mohameds Team versucht, mit den jungen Salafisten und Dschihadisten ins Gespräch zu kommen und sie zu öffentlichen Talkshows eingeladen. Doch deren Anführer haben ein Ziel, über das es aus ihrer Sicht nichts zu diskutieren gibt: die Einführung der Scharia, der mittelalterlichen islamischen Rechtsvorschriften, als einzig verbindlicher Rechtsgrundlage.

Täglich kommt es in Bengasi und dem 200 Kilometer östlich gelegenen Derna zu Anschlägen gegen Armee und Polizei. Meist mit per Handy gezündeten Autobomben, die per Magnet unter dem Fahrersitz angebracht wurden. »Die Attentate werden von angeheuerten Profis ausgeführt, die Hintermänner wollen so einen demokratischen Rechtsstaat verhindern«, so Mohameds Freund Abu᠆bakr.

Einer ihrer Bekannten, der sich MC Swat nennt, ist ein stadtbekannter Rapper. »Die Salafisten und Dschihadisten hören meine Musik, auch wenn sie meine Konzerte regelmäßig verhindern. In meinen Texten spreche ich über die Probleme der jungen Generation Libyens. Über die Korruption der Elite, über fehlende Anerkennung, Jobs oder Selbstbestimmung.«

MC Swat sagt, auch einige seiner Schulfreunde sind bei Milizen wie Ansar Scharia gelandet. »Die Milizen geben ihnen ein Selbstwertgefühl durch den Glauben, eine Gruppenzugehörigkeit oder Geld. Um Libyen zu befrieden, muss der Staat ein Gegenmodell dazu anbieten.«

Im Osten Libyens, in der Provinz Cyrenaika, ist man enttäuscht über die Resultate des Aufstandes. Dort, wo alles vor drei Jahren begann, sind der Zentralismus und mangelnde Unterstützung aus der Hauptstadt Tripolis Thema Nr. 1. Überall stehen kleine Gruppen von Männern und diskutieren. »Libyen wird von Lastwagenfahrern regiert«, schimpft einer.

Die Miliz Ansar Scharia in Derna lehnt demokratische Wahlen ab. Die Regierung und der Nationalkongress wurden von ihr zu Ungläubigen und Feinden der aus ihrer Sicht islamischen Revolution erklärt. Selbst Armee und Polizei trauen sich deshalb in Derna nicht mehr auf die Straße.

»Und trotzdem hat Libyen eine Perspektive. Viele der Probleme haben soziale Gründe, und im Gegensatz zu Tunesien hätten wir Geld, sie zu lösen«, sagt Ali Masednah-Kothany. »Es fehlt uns nur die Erfahrung des gleichberechtigten Zusammenlebens. Libyen ist im Lernprozess.« Der ehemalige libysche Botschafter in Berlin hat in Tobruk, der zweitgrößten Stadt der Cyrenaika, ein Ärztehaus aufgebaut.

Die Hafenstadt liegt nur 120 Kilometer von Derna entfernt und doch scheinbar in einem anderen Land. Tobruk wird von den Bürgern verwaltet, die meisten Gremien in der Stadt werden halbjährlich neu besetzt. Die früheren Aufständischen haben sich in die Armee eingegliedert, im Stadtbild sind weder Waffen noch Kontrollpunkte zu sehen.

In Derna wurde Extremismus aufgrund jahrelanger Vernachlässigung durch die Regierung begünstigt. Junge Männer gingen in den 90er Jahren nach Afghanistan und kamen als Radikale zurück. In Tobruk hingegen haben sich die Stämme gegen jede Form des Extremismus gewehrt. »Al Qaida betritt unsere Stadt nicht«, sagt der Chef der Lokalrates. »Wir wollen ausländische Investoren und schauen in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit.« Eine Kommission arbeitet bereits an einem Saharatouren-Konzept für Touristen.

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