- Kultur
- Buchmesse Leipzig
Wider die Vorurteile
Wilfried Loth über die schwierige europäische Einigung
Der stellvertretende Ministerpräsident Brandenburgs und Ex-Europaabgeordnete Helmuth Markov von der LINKEN merkte am Rande eines Landesparteitages seiner Partei Anfang des Jahres an, die Europäische Union sei das beste Beispiel für Marxsche Dialektik: »Sie ist gut und sie ist nicht gut. Sie ist demokratisch und hat ein Demokratiedefizit. Sie ist sozial, aber bei weitem nicht sozial genug.«
Grund dafür mag sein, dass die Europäische Union ein vielschichtiges System darstellt. Aufgespalten zwischen Supranationalität und Intergovernementalität, zersplittert und zugleich geeint, belastet und bereichert durch durch unzählige regionale Eigen- und Besonderheiten. Dies verführt den ungelernten Betrachter, allzu oft auch den geübten homo politicus, dem vermeintlichen Wirrwarr mit Schlichtheit zu begegnen. Dem Komplexen wird das Banale entgegengehalten. Die verflochtenen europäischen Institutionen sehen sich mit vereinfachter wie verkürzter Ablehnung konfrontiert. Das mag der Sache nicht gerecht werden, in der Politik ist Fairness leider keine Norm.
Wilfried Loth ist kein Politiker, sondern Wissenschaftler. Rechtzeitig zum Europa-Wahlkampf legt der Historiker ein bemerkenswertes Buch vor: eine Geschichte der europäischen Einigung, in deren Mittelpunkt die Interessenkonflikte europäischer Staaten und Regierungen sowie deren Folgen für die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Politik stehen. Nebenbei widerlegt er Vorurteile platter politischer Agitation. Etwa wenn er erwähnt, dass die knapp 22 000 Beamten in der Europäischen Kommission bei weitem nicht ausreichen würden, um die Verwaltung der Stadt Köln am Leben zu erhalten. Oder wenn er vorrechnet, dass das subjektive Empfinden der Bürger, einem »Teuro« ausgeliefert worden zu sein, täuscht. Wohltuend ist, dass in diesem Buch mal nichts über die Krümmung der Gurke zu lesen ist.
Der Autor erinnert an die Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Kalten Krieg, im Spannungsverhältnis zwischen den sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges herausbildenden Supermächten und Blöcken. Seine Erzählung europäischer Geschichte erfasst Gemeinsamkeiten und Unterschiede, berichtet von Förderern und Blockierern europäischer Kooperation. Loth beschränkt sich nicht, wie so viele andere Abhandlungen und politische Debatten, auf eine Beschreibung des Zustands einzelner EU-Institutionen. Sein Fokus liegt auf der Benennung von Interessen, auf der Darstellung der unterschiedlichen Geschwindigkeiten unter europäischen Partnern und den Problemen bei der Herausbildung eines gemeinsamen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Subjekts auf dem Kontinent. Dabei greift er auf eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten, Reden und Verträgen zurück. Hier findet sich eine Zusammenstellung persönlicher Ansichten, Aussagen und Schriften von Winston Churchill bis José Barroso. Besonders spannend sind die Protokolle von Debatten in Hinterzimmern. Und höchst aufschlussreich ist die Definition von Kompromissen in den sechs Dekaden europäischer Einigung.
-
/ Tom Strohschneider»Die Erfüllung einer europäischen Aufgabe«Vereinigte Staaten und demokratisch-sozialistische Sammlung: die fast vergessene Vorgeschichte eines Europa von unten
-
/ Giorgos Katrougalos und Axel TroostEuropa ist noch zu retten - aber nicht um jeden PreisAnlässlich des 60. Jahrestags der Römischen Verträge unterbreiten Giorgos Katrougalos und Axel Troost Vorschläge für eine europäische Sozialunion
-
Kritik an Erdogans autoritärer Willkür wird lauterSPÖ-Kanzler Kern: Das sind »inakzeptable Anschläge auf Demokratie und Pressefreiheit« / EU-Kommission beklagt schwerwiegende Rückfälle in der Türkei
Loth widerspricht einer vielerorts in Europa neopopulären Rückbesinnung auf den Nationalstaat und schreibt: »Es gibt keinen plausiblen Beleg für die Behauptung von Ralf Dahrendorf aus dem Jahr 1994, allein der Nationalstaat sei imstande, tiefere Bindungen der gesellschaftlichen Kräfte zu schaffen«. Zugleich kritisiert der renommierte Historiker jedoch die »bisherige institutionelle Entwicklung der EU, welche auf technokratischem Wege und ohne breite gesellschaftliche Diskussion und nachhaltige Identifizierung der Bürger der EU mit ihren Institutionen« erfolgt sei.
Und so bleibt denn auch die Geschichte der europäischen Einigung eine unvollendete - nach Überzeugung von Wilfried Loth ist sie aber keineswegs eine gescheiterte.
Wilfried Loth: Europas Einigung. Eine unvollen-dete Geschichte. Campus. 512 S., geb., 39,90€.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.