Europa - ein »Raum für Schutz und Solidarität«?
Von wegen: Teil 1 der nd-Serie über Mythen der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik
Deutschland will sich bis heute nicht von dem Dogma lösen, es sei »kein Einwanderungsland«. Asylsuchende sind hier deshalb einer ganzen Reihe diskriminierender Gesetze unterworfen. Und auch auf europäischer Ebene gehört Deutschland in Sachen Asyl zu den Hardlinern. In einer Serie in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung soll der grundlegende Widerspruch der europäischen Asylpolitik ins Licht gerückt werden: Die EU lässt sich als »Raum des Schutzes und der Solidarität« feiern, der den Opfern von Kriegen und Verfolgung Zuflucht bietet. Doch gleichzeitig tut sie alles, um zu verhindern, dass Menschen, die diesen Schutz nötig haben, ihr Recht auf Asyl in Anspruch nehmen können.
Das Europäische Asylsystem macht aus Europa einen »Raum für Schutz und Solidarität« (EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström am 12. Juni 2013)
Europa ist stolz darauf: Verfolgte genießen hier Schutz. Alle Staaten der Europäischen Union (EU) haben sich darauf verpflichtet. Dieses Recht ist in der Genfer Flüchtlingskonvention festgeschrieben; von dort ist es in das EU-Recht ebenso eingeflossen wie in das der 28 Mitgliedstaaten. In Deutschland hat der einklagbare Rechtsanspruch von politisch Verfolgten auf Asyl sogar Verfassungsrang – das gibt es in keinem anderen Land der Welt.
Was ist dran?
Doch wie Flüchtlinge dieses Recht in Anspruch nehmen können, steht nirgends. Die Botschaften in den Ländern, aus denen die Flüchtlinge kommen, oder in den Transitregionen nehmen keine Asylanträge an. Sie können nur in der EU gestellt werden. Und eine legale Möglichkeit, nach Europa zu kommen, um hier einen Asylantrag zu stellen, existiert nicht.
Von Tunis nach Palermo beispielsweise fahren mehrmals wöchentlich Fähren. Ein Ticket gibt es schon für 48 Euro, die Reisenden sind zehn Stunden unterwegs, es ist eine komfortable Überfahrt. Doch wer sie antreten will, um in der EU Schutz zu suchen, hat zu diesen Schiffen keinen Zugang: Er oder sie bekommt kein Visum. Gleiches gilt für Flugverbindungen: Ohne gültiges Visum kommen Flüchtlinge nicht an Bord – auch nicht, wenn sie angeben, einen Asylantrag stellen zu wollen. Sonst müssen die Fluggesellschaften sie auf eigene Kosten wieder zurückbringen.
Die meisten der Menschen, die zuletzt im Mittelmeer ertrunken sind, flüchteten aus Krisenstaaten. Ein Asylantrag von ihnen hätte in der EU durchaus Chancen gehabt. Doch SomalierInnen, SyrerInnen oder AfghanInnen steht oft nur ein Weg offen: die lebensgefährliche illegale Einreise.
Wie eine grausame Lotterie
Eine EU, die Flüchtlingen Schutz bieten will, aber gleichzeitig alles tut, damit niemand diesen Schutz in Anspruch nehmen kann – das hätte mittlerweile anders sein können: Seit 1998 hat die EU an ihrem neuen, gemeinsamen Asylsystem CEAS (Common European Asylum System) gearbeitet. Es ist eines der größten Harmonisierungsprojekte der Union. Die für Asylfragen zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström verglich das alte System mit einer »grausamen Lotterie für Asylsuchende«. Tatsächlich ist die Behandlung von Flüchtlingen innerhalb der EU extrem unterschiedlich, je nachdem, wo sie landen. Während die Staaten an den Außengrenzen wie Griechenland, Malta, Polen, Ungarn oder Italien MigrantInnen oft erst in Internierungslagern einsperren, um sie dann teils sich selbst zu überlassen, gewähren Staaten Zentral- und Nordeuropas relative Freiheit und Versorgung – sofern die Flüchtlinge nicht abgeschoben werden. Und während Frankreich etwa im ersten Quartal 2013 nicht einmal jeden fünften Asylantrag anerkannt hat, waren es in den Niederlanden mehr als Hälfte.
Die Prüfung von Asylanträgen und die Behandlung Schutzsuchender sollten durch das CEAS EU-weit angeglichen werden – von der Größe der Zellen in Abschiebegefängnissen bis zu Standards für die Einstufung der Lage in den Herkunftsländern. Die Kommission versprach, die EU werde damit zu einem »Raum des Schutzes« für verfolgte Menschen werden.
Behandelt wie Kriminelle
Seit Juni 2013 ist das CEAS nun in Kraft, die Realität aber ist: Die Menschen, die in der EU Schutz suchen, riskieren nicht nur ihr Leben auf dem Mittelmeer, sondern werden – hier angekommen – wie Kriminelle behandelt. Die sogenannte Aufnahmerichtlinie erlaubt es, Asylsuchende monatelang einzusperren. Damit ist nicht etwa die in Deutschland bekannte Abschiebehaft gemeint, die verhängt wird, um eine direkt bevorstehende Abschiebung durchzusetzen. Die Internierung richtet sich gegen Neuankömmlinge – noch vor der Antragstellung, aber auch während des laufenden Verfahrens. Und sie ist sogar bei Minderjährigen erlaubt. Die Grundlagen dafür sind so schwammig formuliert, dass die Behörden nach Belieben praktisch jeden Flüchtling jederzeit einsperren können. Möglich ist dies zur Feststellung der Identität, zur Beweissicherung – gemeint ist das Verfahren um das Aufenthaltsrecht –, zur Prüfung des Einreiserechts, wegen verspäteter Asylantragsstellung, aus Gründen der »nationalen Sicherheit und Ordnung« und zur Verhinderung des Untertauchens.
Vor allem in den Staaten an den Außengrenzen der EU ist es seit Jahren gang und gäbe, Flüchtlinge unter meist katastrophalen Bedingungen einzusperren. Diese Praxis wurde durch das CEAS nun legalisiert. Künftig müssen die gefängnisartigen Internierungslager für Flüchtlinge allerdings bestimmte Standards erfüllen. Ihren Bau oder ihre Umrüstung zahlt dafür die EU. Zudem wird jeder Flüchtling, der in die EU einreist, in der Biometrie-Datenbank Eurodac registriert. So wird verhindert, dass in mehreren Ländern ein Asylantrag gestellt wird. Aber auch die Polizei hat seit 2013 Zugang zu der ständig wachsenden Fingerabdruck-Datenbank – Flüchtlinge stehen so unter Generalverdacht.
Und übrigens: Andere Teile der Welt zeigen sich großzügiger bei der Aufnahme von Flüchtlingen als der selbsternannte »Raum des Schutzes« Europa. Weltweit sind etwa 45,2 Millionen Menschen auf der Flucht. Die meisten von ihnen fliehen innerhalb des Südens der Erde. Nur ein Bruchteil gelangt in die reichen Industrienationen. Besonders dramatische Fälle nimmt das UN-Flüchtlingshilfswerk in sein sogenanntes Resettlement-Programm auf. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) versucht dabei, schutzbedürftige Personen in ein sicheres Land zu vermitteln. Europa hält sich dabei stark zurück. 2012 etwa fand der UNHCR Resettlement-Plätze für 74.000 Menschen. Davon reisten allein 67.000 nach Australien, Kanada und in die USA aus. Die gesamte EU nahm in dieser Zeit gerade einmal 5.500 Menschen auf.
Die Broschüre »Flüchtlinge Willkommen - Refugees Welcome?« hat Christian Jakob verfasst, sie bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist in der Reihe »luxemburg argumente« erschienen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.