Flüchtlingscamp am Oranienplatz wird abgerissen

Viele Flüchtlinge packen beim Abbau der Hütten selber an, andere protestieren gegen die Auflösung des Protestsymbols

  • Martin Kröger
  • Lesedauer: 4 Min.
Am Dienstag begann der langerwartete Abbau des Flüchtlingscamps am Oranienplatz – 18 Monate harrten die Protestierenden hier aus. Wenig erstaunlich, dass nicht alle einverstanden waren.

Die Vorbereitung ist akribisch. Diesmal wollen das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg und der Berliner Senat beim Abbau des Flüchtlingscamps auf dem Oranienplatz offenbar keine Fehler machen. Um Punkt sechs Uhr am Dienstagmorgen beginnt der Abbau der insgesamt 36 Zelte und Hütten. Rund 100 Flüchtlinge wohnen dem Schauspiel bei, wie ein Bagger des bezirklichen Grünflächenamtes den ersten Holzverschlag niederreißt und auf einem bereitgestellten Laster der BSR ablädt. Unterstützer der Asylsuchenden oder den Abbau ablehnende Flüchtlinge sind um diese frühe Uhrzeit nicht zu sehen. Dafür stehen Shuttlebusse bereit, die bis zum Mittag 85 Flüchtlinge in ein vom Senat bereitgestelltes Hostel in Friedrichshain bringen.

»Das ist alles nicht leicht«, sagt Bashir Zakarjan mit Blick auf den rollenden Bagger. »Aber wir wollen neu anfangen«, betont er. Der nigerianische Flüchtling war einer von acht Delegierten, die sich in den vergangenen drei Monaten insgesamt 15 Mal mit Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) und der ehemaligen Ausländerbeauftragten Barbara John (CDU) getroffen haben, um eine Lösung für das Flüchtlingscamp zu finden, das seit über 18 Monaten in Kreuzberg existiert. Sechs von acht Unterhändlern sollen die Vereinbarung zur Lösung am Oranienplatz laut Kolat inzwischen unterzeichnet haben, sie sollen einen »Großteil« der Asylsuchenden, die teilweise aus dem italienischen Lampedusa nach Berlin gekommen sind, vertreten.

Ob das stimmt, ist schwer nachzuprüfen. Nach der Abfahrt größerer Flüchtlingsgruppen kippt im Laufe des Vormittags die Stimmung auf dem Platz. Immer mehr Unterstützer aus der linksalternativen Szene und Flüchtlinge aus der besetzten 
Gerhart-Hauptmann-Schule trudeln ein. Zwischen den Gruppen brechen Wortgefechte aus, die immer wieder auch handgreiflich ausgetragen werden. Die Flüchtlinge um Bashir Zakarjan fertigen immer wieder Unterstützer ab und schüchtern diese auch ein. »Wir sind immer die Flüchtlinge, die ihr begaffen könnt. Aber wir wollen unser Leben zurück!«, schreit er eine Unterstützerin an.
Am Rande der Szenerie steht Barbara John. Die Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin nimmt die emotionalen Ausbrüche gelassen. Sie ist für den Transport und die Unterbringung der Flüchtlinge zuständig. Dass viele von ihnen den Platz räumen wollen, findet sie nachvollziehbar. »Das waren menschenunwürdige Zustände hier«, sagt John. Ratten, keine Toiletten, Müll und Probleme mit der Wasserversorgung haben die Lebensbedingungen der Flüchtlinge seit Monaten immer mehr erschwert. Zudem meint die Unterhändlerin eine »mentale« Müdigkeit bei den meisten Asylsuchenden ausgemacht zu haben. »Sie können und wollen nicht mehr«, sagt John dem »neuen deutschland«.

Mittendrin in Kreuzberg ist an diesem Dienstagmorgen auch Polizeipräsident Klaus Kandt. Er steht am Rande des Platzes, telefoniert, gibt Journalisten Statements. Dem »nd« sagt er: »Bislang gibt es keinen Polizeieinsatz.« Das ist auch zu diesem frühen Zeitpunkt nicht ganz richtig, denn sowohl in den Nebenstraßen als auch auf dem Oranienplatz (in Zivil) sind Polizisten in Warteposition. Zum Einsatz kommen sie zunächst allerdings nicht. Das ist insofern erstaunlich, als dass nach dem letzten Abbauversuch des Camps im November vergangenen Jahres hunderte Unterstützer und Flüchtlinge zusammenkamen, um die Auflösung des Camps zu verhindern. Dabei kam es auch zu Auseinandersetzungen, dutzende Polizisten wurden durch eine Pfefferspray-Attacke eines Demonstranten verletzt. Auch am Dienstagmorgen werden nach einiger Verzögerung die Alarmketten der linken Szene ausgelöst, doch nur wenige Unterstützer folgen zunächst. Viele Antirassisten haben sich in den vergangenen 18 Monaten für den Platz und die Flüchtlinge aufgebraucht. Einige sind die Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen Leid. »Was soll man machen, wenn die Flüchtlinge das so wollen, dann ist das so«, sagt einer. Dirk Stegemann, ein weiterer Unterstützer der Flüchtlinge, sagt: »Die Flüchtlingsproteste werden trotz Abbaus des Camps weitergehen.« Das Symbol Oranienplatz werde bleiben.

Wie wichtig das Symbol für einige ist, zeigt sich gegen Mittag. Der Abbau der letzten Zelte wird inzwischen durch eine größere Menge aktiv verhindert. Am Nachmittag kommt es zu einem größeren Polizeieinsatz, eine Sitzblockade wird geräumt. Die Hoffnung der Verhandlungsführerin des Landes Berlin, der Integrationssenatorin Dilek Kolat, den Abbau »friedlich« durchzuführen, erfüllt sich am Ende nicht. Zäune, die das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg aufstellen wollte, um die Grünflächen auf dem Oranienplatz zu schützen, werden niedergerissen. Protestierende verschanzten sich in den letzten Zelten.

In der Senatspressekonferenz am Mittag erklärt Kolat dennoch, dass sie die Vereinbarung durch die Flüchtlinge erfüllt sieht: »Die Vereinbarung, die Zelte abzubauen, wurde durch die Flüchtlinge umgesetzt«, sagt sie. In den kommenden Tagen soll deshalb die Registrierung der 467 Flüchtlinge durch Caritas und Diakonie in den Heimen in der Gürtelstraße, der Residenzstraße und in Marienfelde vorgenommen werden. Dann soll eine »wohlwollende« Prüfung der Asylverfahren beginnen. Die Unterstützer fordert Kolat auf, »die Flüchtlinge in Ruhe zu lassen«.

Auf dem Oranienplatz selbst soll der Protest gegen die Asylpolitik in der Bundesrepublik und die Zustände in den Asylbewerberheimen eigentlich weitergehen. Ein weißer Container wurde dafür bereitgestellt. Ob es wirklich so kommt, war am Nachmittag zunächst unklar.

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