Stimmen aus dem Grenzland

Über prorussische und proeuropäische Aktivisten, Wirtschaftsbosse und den Einfluss fremder Mächte im ostukrainischen Donezk. Von Ulrich Heyden

  • Ulrich Heyden
  • Lesedauer: 14 Min.
Im Osten der Ukraine leben Menschen vieler Nationalitäten. Allein schon wegen der Grenznähe sind sie an einem guten Verhältnis zu Russland interessiert, egal ob sie die Kiewer Ereignisse gutheißen oder ablehnen. Und viele verlangen mehr Selbstbestimmung, wie unser Autor in der Industrie- und Universitätsstadt Donezk feststellte.

Die Polizeisondereinheit »Jaguar« ging bei der Säuberung der Gebietsverwaltung von Charkow in der Nacht zum Dienstag brutal vor. Nach Augenzeugenberichten prügelten die Mitglieder der Sondereinheit, die aus dem westukrainischen Winniza kommt, wahllos auf Männer wie auf Frauen ein, die das Gebäude besetzt hatten. Ziel der Besetzung war es, ein Referendum über die Zukunft des Gebietes Charkow zu erzwingen. Vor der Gebietsverwaltung von Donezk haben die Besetzer derweil Wälle aus Autoreifen aufgeschichtet. Sie wollen das Gebäude nicht räumen, trotz Ultimatums des Innenministers.

Über die Situation im Osten der Ukraine werden in westlichen Medien unbelegte Behauptungen verbreitet. So heißt es, dort gäbe es - anders als auf der Krim - keine Unterstützung für eine Vereinigung mit Russland. Doch Meinungsumfragen, die eine solche These stützen, existieren nicht.

Meinungsumfragen sind unter den gegebenen Umständen auch kaum ergiebig. Denn in der gegenwärtigen zugespitzten Situation muss jeder, der eine Annäherung der Ostukraine an Russland befürwortet, befürchten, als Separatist gebrandmarkt, gekündigt und womöglich verhaftet zu werden. Zwanzig Aktivisten prorussischer Organisationen in der Ostukraine sind bereits in Haft. Der bekannteste dieser politischen Häftlinge ist Pawel Gubarjow, der auf einer Kundgebung in Donezk zum alternativen »Volksgouverneur« gewählt worden war, jetzt aber in einem Kiewer Untersuchungsgefängnis sitzt.

Auch für die Behauptung, die Besetzung der Gebietsverwaltungen hätten Unruhestifter aus Russland organisiert, gibt es keinen Beleg. Nach Angaben der Innenbehörde von Charkow waren unter den 64 in der Nacht zum Dienstag Verhafteten keine russischen Staatsbürger. Der ukrainische Grenzschutz hat die Kontrollen an der Grenze zu Russland seit Anfang März verstärkt. Junge Männer, die von Russland in die Ukraine einreisen wollen, werden von Grenz- und Geheimdienstbeamten penibel nach Ziel und Zweck der Reise befragt.

Wochenende für Wochenende hat Nina, eine 50-jährige Lehrerin, auf dem Lenin-Platz in Donezk demonstriert. Warum nur am Wochenende? »Weil wir in der Woche arbeiten müssen«, erklärt sie. Die Demonstranten forderten ein Referendum zur Föderalisierung der Ukraine. Doch von Mal zu Mal wurde deutlicher, dass die Teilnehmer - es kamen in den vergangenen Wochen fünf- bis zehntausend - eigentlich mehr wollten als Föderalisierung. Nina sagt unumwunden, eine Koalitionsregierung in Kiew, in der auch Vertreter aus der Ostukraine sitzen, würde ihr nicht mehr reichen. Es gäbe nur einen, der die Interessen der Russen in der Ostukraine schützt. Den Namen des russischen Präsidenten nennt Nina nicht.

Der Taxifahrer: »Rinat Achmetow hält alles in der Hand«

Für Andrej, einen Taxifahrer mit georgischen Vorfahren, ist vor allem wichtig, dass es in der Ukraine Stabilität gibt. »Ich will sicher sein, was am nächsten Tag passiert«, sagt der 35-Jährige. Ja, er habe eine Freundin. Um eine Familie zu gründen, reiche das Geld aber nicht.

Die letzten Monate waren für den Taxifahrer schwierig. Der Benzinpreis ist von 11 auf 13 Griwna gestiegen. Gleichzeitig nahm die Zahl seiner Kunden ab. Die Wirtschaft ist am Boden, der Kurs des Griwna fällt. Während ein Dollar im letzten Jahr vor dem »Euromaidan« noch acht Griwna kostete, muss man jetzt zwölf Griwna dafür zahlen.

Das Gerede von einem Bürgerkrieg hält Andrej aber für übertrieben. Da laufe viel virtuell, meint der Taxifahrer. »Ich höre von einer Kundgebung, fahre zu dem Platz, aber dort steht kein Mensch. Ich höre von einer Schlägerei, fahre hin. Aber da ist auch nichts.«

Etwas ist dran an dieser Beobachtung. Donezk hat 950 000 Einwohner. Aber nur Tausende und nicht Zehntausende demonstrieren für eine Annäherung an Russland. Auch fällt auf, dass sich an den Kundgebungen für ein Referendum und die Föderalisierung vor allem Menschen über 35 Jahre beteiligen.

Was er von Rinat Achmetow hält, dem Oligarchen, der Präsident Viktor Janukowitsch und seine Partei der Regionen jahrelang sponserte? »Achmetow ist immerhin ein Mann, der Entscheidungen fällt«, meint Andrej. »Außerdem hält er alles in einer Hand.« Und schließlich beschäftige er auch sehr viele Menschen.

Achmetow hat versucht, sich als Vater der Region darzustellen. Er bezahlte nicht nur die russlandfreundliche Partei der Regionen, sondern auch den Fußballklub Schachtjor Donezk. Die Partei allerdings ist nach dem Machtwechsel in Kiew erheblich geschrumpft.

Über die dunkle Vergangenheit Achmetows sprechen die Menschen in Donezk ungern, schon gar nicht, wenn Fremde danach fragen. Hinter vorgehaltener Hand erzählt man, Achmetow habe Anfang der 90er Jahre dem führenden Mafiaclan der Region angehört. Andrej winkt ab: »Wenn es nicht Rinat Achmetow gäbe, gäbe es einen anderen.« Wirtschaftsbosse, die auf krummem Wege zu einem Riesenvermögen gekommen sind, scheinen für viele Menschen in Donezk etwas Naturgegebenes zu sein.

Die Jurastudenten: Für und gegen den Maidan

Es gibt in der Stadt Donezk auch Sympathisanten des Kiewer Maidans. Da sind zum Beispiel Wlad und Anja. Die beiden Zwanzigjährigen studieren Jura und sind ein Paar. Ich lerne sie in einem Laden für Hausrat kennen, wo ich Handyguthaben kaufe. Wlad hilft mir, den Zahlencode zur Aktivierung des Guthabens richtig einzugeben.

Danach sitzen wir auf einer Bank in der Frühlingssonne und quatschen. Dass die Werchowna Rada in Kiew Russisch als offizielle Regionalsprache abschaffen will, sei eigentlich kein großes Problem, meint Wlad. »Die (gemeint sind die prorussischen Aktivisten) machen daraus einen Kult.« Selbst wenn Russisch nicht zur zweiten Amtssprache würde, »bleibt Russisch im Alltag so und so eine wichtige Sprache«, versichert Anja.

Wie sie es finden, dass jetzt die ganze Welt auf die Ukraine schaut? »Wir finden es toll, dass in Berlin auf der Straße Tango getanzt wird, um für Verletzte auf dem Maidan Geld zu sammeln«, sagt Anja. Ob der Maidan denn etwas Reales an Verbesserungen gebracht habe, frage ich. »Die Macht ist zwar neu, aber der Staatsapparat ist der alte geblieben«, gibt Wlad zu.

Ein paar Tage später treffe ich zwei andere junge Leute, Andrej und Walera, auf einer prorussischen Kundgebung im Stadtzentrum. »Fernsehen gucken bringt nichts«, meint Andrej, »da wird nur das gezeigt, was für die günstig ist, die jetzt an die Macht gekommen sind.« Sehr ausführlich sei berichtet worden, dass in Donezk ein angeblicher russischer Spion festgenommen wurde. Das Fernsehen sage, dass sich russische Truppen an der Grenze eingraben. Aber das sei alles Übertreibung.

Als Viktor Janukowitsch noch an der Macht war, hätten Universitätsrektoren über die Dozenten dafür gesorgt, dass sich Studenten mit ukrainischen Fahnen an den Demonstrationen für die Europäische Union beteiligen. Bei diesen Demonstrationen seien auch immer viele Medienvertreter gewesen. Man habe zeigen wollen, dass Donezk auch für die EU-Integration ist. »Wir sind nicht gegen die EU«, versichert Walera. »Aber wir wollen auch enge Beziehungen zu Russland. Ich habe Verwandte dort«, sagt der 23-Jährige. »Jetzt gibt es Kontrollen an den Grenzen und man überlegt sich schon sehr genau, ob man nach Russland fährt oder nicht.«

Andrej bestätigt: »Wir wollen uns nicht abspalten, sondern nur mehr Selbstbestimmung. Aber wenn sich die Situation zuspitzt, kann es sein, dass wir uns Russland anschließen.« Viele Menschen würden jetzt fordern, dass Janukowitsch zurückkehrt. Viele hofften auch, dass Putin die Rückkehr unterstützt.

Als am 13. März in Donezk Maidan-Anhänger mit ukrainischen Flaggen demonstrierten, sei es zu einer Schlägerei gekommen, berichten die beiden. Bei acht Maidan-Aktivisten hätten prorussische Aktivisten 100-Dollar-Scheine gefunden. »Normalerweise haben unsere Bürger keine Dollars in den Taschen«, weiß Walera. Offenbar seien die Demonstranten bezahlt worden.

»Bis zum Maidan lebten wir normal«, erzählt Andrej. »2012 haben wir die Fußballeuropameisterschaft organisiert. Als die Demonstrationen auf dem Maidan begannen, hieß es plötzlich, in der Ukraine sei alles schlecht, obwohl das nicht stimmt. Meine Großmutter hat regelmäßig ihre Rente bekommen. Und die Rente stieg auch langsam.«

Warum haben ukrainische Oligarchen den Maidan finanziert? Warum haben sie damit die Störung der Wirtschaft riskiert? »Die Oligarchen handeln mit Metall und Kohle«, meint Walera. Da wird in Dollar abgerechnet. Der Fall des Griwna betrifft sie gar nicht.

Die Chefredakteurin: Große Mächte entscheiden das Schicksal der Ukraine

Marina Charkowa ist Chefredakteurin der Donezker Zeitung »Krjasch«. Die Redaktion residiert außerhalb des Stadtzentrums in einem Industrie- und Wohngebiet. Eine Wache gibt es in dem Bürogebäude nicht. »Zu teuer«, sagt die Chefin. Dabei wäre es nicht schlecht, den Eingang des Gebäudes zu bewachen, denn Marina Charkowa bekommt häufig Drohanrufe. Die Zeitung »Krjasch« ist russlandfreundlich, und daran stören sich die Anhänger der neuen Regierung in Kiew. »Du bist bald an der Reihe«, tönen die anonymen Anrufer.

Und die Polizei reagiert nicht? »Die Polizei ist kaum noch arbeitsfähig«, entgegnet Charkowa. Wie man bei den Auseinandersetzungen der vergangenen Wochen sah, sucht sich die Polizei aus Konflikten zwischen Regierungsgegnern und -unterstützern herauszuhalten. Viele Ordnungshüter sympathisieren mit den prorussischen Kräften. Innenminister Arsen Awakow hat bereits personelle Konsequenzen angekündigt.

Und der ukrainische Geheimdienst SBU? »Der wird vom CIA kontrolliert«, ist Charkowa überzeugt. Beweisen kann sie das nicht. Aber schon mehrmals seien Mitglieder der amerikanischen Sicherheitsfirma Grey-stone in Donezk gesehen worden, berichtet die Chefredakteurin, »zuletzt im Supermarkt Afshan«. Die Grey-stone-Leute schützen regierungsnahe Politiker und Gouverneure, erzählt man sich in der Stadt. Die Firma selbst bestreitet das.

Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung der Ostukraine? Marina Charkowa meint, es gäbe drei Gruppen. »30 Prozent sind für die Ukraine, wie sie jetzt ist. 40 Prozent wollen eine Föderalisierung, also mehr Selbstbestimmung für die Regionen, und 30 Prozent wollen eine Vereinigung mit Russland.« Warum die Zahl der prorussischen Demonstranten zuletzt abgenommen hat, kann die Chefredakteurin auch nicht erklären. Liegt es möglicherweise daran, dass die Menschen in der Ostukraine paternalistisch erzogen sind und immer auf Entscheidungen »von denen da oben« gewartet haben? »Wenn sich die Wirtschaftskrise verstärkt, wird es wieder mehr Demonstranten geben«, ist die Zeitungschefin sicher.

In ihrer Redaktion arbeiten Russen, Ukrainer, Tataren und Juden, erzählt Marina Charkowa. »Der Donbass war immer ein Vielvölkergebiet.« Diese Feststellung ist Charkowa wichtig. Es sind eben nicht nur die Russen, die in der Ostukraine um ihre Rechte kämpfen, es ist die russischsprachige Bevölkerung. Und zu der gehören auch viele andere Nationalitäten, deren Angehörige während der Industrialisierung aus der ganzen Sowjetunion in den Donbass strömten.

Im Donbass leben fünf Millionen Menschen, besonders entschlossene Menschen, wie Charkowa betont. Denn ein Bergarbeiter wisse nie, ob er lebend aus dem Schacht zurückkehrt. In den Kohlebergwerken des Donezker Gebiets gäbe es sieben bis acht Tote jeden Monat. Noch schlimmer sei die Situation in tausenden illegalen Schächten, den »Kopanki«, wo in nur zwölf Meter Tiefe Kohle abgebaut wird. Die Arbeit dort bezeichnet die Chefredakteurin als »latente Sklaverei«. Doch andere Arbeitsplätze gebe es vielerorts nicht. Zwar werde immer wieder versucht, die Kopanki zu schließen, aber das seien mehr Ankündigungen als reale Maßnahmen.

Die politische Elite des Donbass, die bisher hinter der Partei der Regionen stand, warte jetzt ab, welche der großen Mächte beim Ringen um die Ukraine gewinnt, »die USA, die EU, Russland oder China«. Sobald der Sieger feststehe, glaubt Frau Charkowa, werde die Elite »die Bedingungen desjenigen übernehmen, der gesiegt hat«. Für die Chefredakteurin ist die Entwicklung noch völlig offen. »Alle warten auf das Finale«. Mindestens 70 Rada-Abgeordnete haben die Partei der Regionen bereits verlassen. Die Parlamentarier, zum Teil wohlhabende Leute, hätten Angst vor physischer Abrechnung. »Sie fürchten, dass man ihre Häuser plündert, ihre Kinder entführt, und dass ihre Firmen von bewaffneten maskierten Männern besetzt werden, die die Enteignung fordern«, sagt Charkowa. Die Elite in Donezk habe Angst davor, dass »hungrige Nationalisten« ihr Eigentum unter sich aufteilen.

Das Bücherregal Marina Charkowas ist voller Souvenirs. Der Blick des Besuchers fällt unweigerlich auf einen golden glänzenden Stalinkopf. Unter Stalin habe sich die Region industriell mächtig entwickelt, meint die Journalistin. Und die Massenrepressionen jener Zeit? Die Zeitungschefin weicht aus. Sie verteidigt die Repressionen nicht, kritisiert sie aber auch nicht. »Stalin ist für mich ein Mensch wie Roosevelt, Thatcher und Helmut Kohl«, gibt sie zu.

Später höre ich von prorussischen Aktivisten, Stalin sei zurzeit wieder populär, »wegen seiner Strenge«. Nicht vergessen ist auch, dass die Stadt Donezk bis 1961 Stalino hieß.

Der ehemalige Bergarbeiter: Meinen Kindern soll es einmal besser gehen

Oligarchen wie Rinat Achmetow sind durch die Kohlebergwerke reich geworden. In einem der vielen Bergwerke hat Denis gearbeitet. Der heute 31-Jährige wurde im Alter von 18 Jahren Bergarbeiter, wie sein Vater. Neun Jahre arbeitete Denis in einem der privatisierten Schächte, wo man es mit dem Arbeitsschutz nicht so genau nahm. Ich treffe ihn in einem Internetcafé im Städtchen Schachtjorsk, etwa 40 Autominuten östlich von Donezk. Der ehemalige Bergarbeiter gehört zu einem Team von jungen Leuten, die die Verlegung von Internetkabeln organisieren und Internetkunden ans Netz anschließen.

Körperliche Arbeit fällt Denis heute schwer. Das Röntgenbild seiner Lunge sehe »nicht gut aus«, verrät der ehemalige Kumpel, der einmal Boxer war. Doch heute fällt ihm selbst das Laufen schwer. Denis kommt schnell außer Atem. Im Schacht gab es nicht wie zu Sowjetzeiten Wassersprenkler, die den Kohlestaub binden. Der Mundschutz sei schlecht gewesen und habe sich schnell voll Wasser gesaugt, weshalb er ihn nur selten benutzt habe.

Was er sich wünsche? Dass es seinen beiden Kindern einmal besser geht. Ob er mal auf eine Demonstration gehen würde? »Für Russland ja, für wen sonst?«, antwortet Denis. Die Gewerkschaften tauchen in seinen Erzählungen nicht auf. Sie sind seit Sowjetzeiten angepasst und nutzen ihre Position nicht für eine kämpferische Interessenvertretung. Statt auf die Gewerkschaften hoffen viele Menschen im Donbass nun, dass Russland hilft, soziale Standards und kulturelle Rechte zu sichern.

Die KP-Sekretäre: Die Oligarchen sind das Hauptproblem

Jewgeni Potapow ist IT-Experte, 37 Jahre alt und stellvertretender Sekretär der KPU im Lenin-Bezirk von Donezk. Potapow hat eine Frau und ein Kind. Eine Zeit lang hat er bei Donezkkoks gearbeitet, einem der größten Chemiebetriebe des Gebiets. Das Unternehmen stellte neben Chemieprodukten Koks her, der für die Stahlherstellung benötigt wird. Doch was Potapow erlebte, war für ihn ein Lehrstück über den wilden Kapitalismus. Der Oligarch Rinat Achmetow kaufte den Betrieb - und legte Teile des Unternehmens still. Man hätte den Betrieb modernisieren können, glaubt Potapow. Doch fast die gesamte Ausrüstung der Fabrik ging in die Schrottverwertung. Mehrere Tausend Mitarbeiter wurden entlassen.

Für ukrainische Geschäftsleute sei es heute günstiger, Koks zu importieren als ihn selbst herzustellen. Ähnlich sei es mit den Bergwerken, von denen in den letzten Jahren Hunderte geschlossen wurden. Neue Kohleschächte zu erschließen, sei unattraktiv, ganz zu schweigen von notwendigen Investitionen in die Arbeitssicherheit.

Ein weiteres großes Problem sei die Schattenwirtschaft, die in der Ukraine riesige Ausmaße angenommen habe. Durch Gründung von Scheinunternehmen erreichten die Unternehmer, dass sie statt 30 Prozent nur zwölf Prozent Steuern zahlen müssen, erzählt der IT-Experte. Der einzige Zweck dieser Scheinunternehmen sei es, Geld zu waschen.

Um Sozialabgaben und Steuern zu sparen, sei es in fast allen Betrieben üblich, den Beschäftigten außer einem offiziellen ein nichtoffizielles Gehalt zu zahlen. Potapow verdient als Abteilungsleiter offiziell 5000 Griwna (330 Euro). Dazu bekommt er »unter der Hand« 2100 Griwna. Die Zahlungen gehen auf zwei unterschiedliche Konten bei der »Privatbank«. Zum Beweis zeigt Jewgeni seine beiden Kreditkarten.

In der Ukraine müsste dringend Ordnung geschaffen werden, bestätigt der stellvertretende KP-Sekretär, der nichts dagegen hätte, wenn Europa und Russland Streitkräfte in gleicher Stärke in die Ukraine schickten. »Was ist schlecht an Deutschen und Franzosen? Sie könnten aufräumen und die Millionäre absetzen.« Der KP-Sekretär lässt sich auch durch Nachfragen nicht von seiner kühnen These abbringen und argumentiert, immerhin habe Deutschland der Welt schon den Kommunismus gebracht. In der Ukraine seien nicht fremde Truppen das Hauptproblem, sondern die Oligarchen, die versuchten, die Menschen mit ihrem Geld gegenein-ander aufzubringen, »um ihren Einflussbereich zu vergrößern«.

Während wir uns unterhalten, gesellt sich der etwas ältere Genosse Wladimir Kossolapow zu uns. Er ist stellvertretender KP-Sekretär im Woroschilow-Bezirk von Donezk. »Ich sehe das etwas anders«, wirft Kossolapow ein, »wenn erst mal ausländische Truppen in der Ukraine sind, ist es schwer, sie wieder hinauszubekommen.« Das wichtigste sei jetzt, zu dem Abkommen vom 21. Februar zurückzukehren. In dem von Janukowitsch, Vertretern der damaligen Opposition und drei EU-Außenministern unterzeichneten Abkommen seien die wichtigsten Schritte zur Lösung der innenpolitischen Krise festgelegt worden. Außerdem sei es vordringlich, eine neue föderative Verfassung auszuarbeiten, die verhindert, »dass da irgendjemand kommt und vorschreibt, welche Sprache du sprechen sollst«. Drittens sei es notwendig, den Export von Faschismus aus der Ukraine in andere Länder zu verhindern. Ukrainische Nationalisten forderten bereits einen Teil Polens als angeblich »angestammten« Teil der Ukraine. Natürlich sei internationale Unterstützung bei der Lösung der Krise in der Ukraine wichtig, fasst Kossolapow zusammen, aber »die Hauptarbeit müssen wir in der Ukraine selbst machen«.

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