Gula und ihre Schwestern
Eine Erzählung von Waldtraut Lewin
Gula besucht die Stadt. Freudige Erregung überall. Denn man erwartet von ihr, zumal sie mit Gefolge kommt, einen unerhörten Aufschwung der Wirtschaft, vor allem auf dem Lebensmittelsektor. Jedoch auch darüber hinaus.
Wie immer erscheint sie umgeben von ihren sechs Schwestern. Keine von ihnen kann letztlich für sich allein bestehen.
Waltraud Lewin, geboren am 8. Januar 1937 in Wernigerode, war zunächst Dramaturgin am Landestheater Halle, wo sie die Bühnenfassungen und Übersetzungen von 16 Händel-Opern aus dem italienischen schuf, später führte sie auch Regie am Volkstheater Rostock. Mit ihrem Roman »Herr Lucius und sein schwarzer Schwan« 1973 wurde sie als Schriftstellerin bekannt und hat seitdem auch mit weiteren historischen Romanen - das Spektrum reicht vom Alten Rom bis zu den Weltkriegen im 20. Jahrhundert - Leser begeistert. Außerdem schrieb sie Biografien, Krimis, verarbeitete Märchen und Sagen.
Eine überaus produktive Autorin: Rund 60 Bücher, davon zwölf zusammen mit ihrer Tochter Miriam Margraf, stammen aus ihrer Feder. Hinzu kommen 20 Hörspiele für Kinder und Erwachsene, Filmdrehbücher. Libretti für zwei Rockopern und viele andere Veröffentlichungen.
Jüngst erst erschien von ihr ein monumentales, tiefgründiges und dabei gut zu lesendes Werk: »Der Wind trägt die Worte. Geschichte und Geschichten der Juden«, zwei dicke Bände von je über 700 Seiten im cbj Verlag.
Sie sind gekleidet in feinstes Schwarz, wie sie daherkommen, denn Schwarz löscht alle Farben aus, und sie löschen aus, was immer sich auslöschen lässt. Nur, das will niemand wahr haben. Sie sind zu siebt, die Bringerinnen der törichten Freuden - und des Stillstands. Sie sind die erbarmungslosen Göttinnen, Wonne und Geißel der Menschheit.
Superbia, die Hochmütige, schreitet ihnen voraus, als sei sie ein Herold, und alle neigen sich bis zum Schuh.
Schlank wie ein Aal ist Gula, immer aufs Neue, stets bereit, alles in sich aufzunehmen. Sie nimmt nie zu, bleibt immer gleich.
Gleich hinter ihr geht ihre Zwillingsschwester Avaritia. Früher wohl einmal hat man sie als geizig dargestellt. Das hat sich gewandelt. Sie ist nur noch gierig. Gierig wie ein schluckender Schlund.
Gula und Avaritia haben blutrote Münder, darin spitze Zähne, bereit zum Verschlingen.
Ihre Augen sind dunkle Onyxe.
Sie betreten das Restaurant, das vornehmste Haus am Platz, Gula in der Mitte, denn natürlich ist das ihr Ort.
Man hat sie erwartet. Der rote Teppich ist ausgerollt. Die Kellner stehen in Reih und Glied.
Die Tafel ist bereitet. Man führt sie zu den hohen Stühlen, Zwilling und Zwilling, Gula und Avaritia.
Schattenhaft haben die restlichen Schwestern ihre Plätze eingenommen irgendwo im verschwimmenden Dämmerlicht des Raums. Auch wenn man sie nicht sieht - sie sind da, immer gegenwärtig, wenn ihre Hilfe gebraucht wird.
Auch ihnen wird zu ihrer Zeit gehuldigt werden.
Der Damast der Tischtücher glänzt wie Mondenschein, darauf die mannigfaltigsten Kelche aus geschliffenem Kristall. Messer, Löffel, Gabel aus Silber? Nein, Gold und Bergkristall.
Geschmückt ist die Tafel mit Chrysanthemen, deren Blätter Gula unverzüglich zu verzehren beginnt.
Avaritia freut sich. So müssen immer neue Blütenkübel auf den Tisch geschafft werden, immer mehr Pflanzen verschwinden fern von ihrer eigentlichen Bestimmung.
Serviert wird zunächst Wasser aus den Tiefen unter der Wüste, Wasser, das vielleicht dereinst hätte die Dürre ergrünen lassen. Nun ist es im Rachen der Schönen verschwunden.
In den Kelchen löst sich mit leisem Prickeln ein Eis auf, das zwanzigtausend Jahre als ist. Es stammt von einem Gletscher am Nordpol. Etwas Reineres kann es nicht geben auf der Welt. Fort damit.
Denn so ist unsere Herrin angetreten, dass ihre Arbeit den ganzen Erdball umspannt. Das ist ihr Programm.
Das Mahl kann beginnen.
Nein, das ist kein Gastmahl. Die Schwestern laden niemanden ein. Sie sind sich selbst genug, und Invidia, deren Wesen Missgunst ist, würde jeden von der Tafel der Schwestern verjagen, möge er so bedürftig sein wie der letzte Bettler.
In langer Reihe kommen die Kellner zunächst, in Schalen aus 24-karätigem Gold, umkränzt von Eis auf Kristall, den Kaviar zu präsentieren.
Beluga-Kaviar aus dem Iran. Es ist »Almas« das weiße Gold des Störs. Selten geworden ist er, dieser uralte Fisch, der schon zur Zeit der Dinosaurier das Wasser pflügte. Und wenn er hundertjährig ist, dann ist sein Kaviar am besten.
Seltenes Glück für einen Fischer, einen Stör aufzuspüren - er dämmert am liebsten im Gewässergrund vor sich hin.
Der Mann, der ihn fängt, wird vielleicht eine Handvoll Münzen mehr bekommen als für einen gewöhnlichen Fischfang, kann sein. Vielleicht soviel, dass er eine Woche davon leben kann, dass er das hundertjährige Fossil, den Boten aus der Tiefe der Zeit, dem Tod auslieferte - mehr nicht. Andere Hände bergen Almas, wieder andere Zähne verzehren den geschundenen Leib des Meeresbewohners, den man nackt und bloß gemacht hat zuvor.
Gula weiß das alles. Es ist präsent in ihr und erhöht den Genuss, wenn sie den speziellen Kaviarlöffel eintaucht und die hellen Perlen am Gaumen zerdrückt.
Je größer das Opfer, desto stärker die Würze.
Im Übrigen macht sie sich nicht viel aus diesen Fischeiern. Sie winkt sie beiseite.
Invidia indes achtet darauf, dass nichts von den verschmähten Speisen anderen zugute kommt. Alles ist ihres, alles gehört nur ihnen! Gula und Avaritia sind jene, die verschlingen. Und Ira, die Zornige, droht mit wütenden Strafen bei Zuwiderhandlung.
Der nächste Gang sind Pilze. Sie heißen Matsusake und kommen aus Japan. Ihr Gewicht wird mit Gold aufgewogen.
Dieser Pilz wächst nur unter Rotkiefern an den Pässen des japanischen Hochlands.
Nicht, dass sein Geschmack ihn ganz besonders hervorhebt unter anderen edlen Pilzen, wie der weißen Trüffel, die Gula auch nicht verschmäht. Aber dieser Pilz ist von ganz besonderer Art. Er lebt zwar einzig in Gemeinschaft mit diesem Baum - aber er tötet ihn auch. Er zieht nämlich ein Insekt an, das, einmal ausgeschlüpft, sich gierig über den Baum hermacht und ihn von innen zernagt.
So gibt es immer weniger Rotkiefern. Und immer seltener, rarer, teurer werden die mörderischen und selbstmörderischen Matsusake, die ohne den Baum nicht existieren können.
Gula liebt den Pilz gegrillt.
Als Zwischengang Haifischflossensuppe. Nicht, dass sie den Geschmack besonders lieben würde. Aber sie weiß, dass man den gefangenen Tieren die Flossen bei lebendigem Leibe abschneidet und sie dann ins Meer zurückwirft.
Wie lange sie wohl noch überleben?, grübelt sie amüsiert. Wenn sie nicht von ihren Artgenossen vertilgt werden, müssen sie sicher ertrinken, denn sie können ja nicht mehr schwimmen. Ein Fisch, der ertrinkt! Das bringt sie zum Lachen.
Während sie schlingt und schlürft, gehen ihre Erinnerungen zurück an andere, von ihr hoch geschätzten Küchen, die sie jetzt vermisst. Vor Zeiten aß sie Nachtigallenzungen! Für ein Gericht wurden Hunderte von Vögeln erwürgt. Bei jedem Bissen, den sie nahm, war ihr deren kleiner Tod wollüstig vor Augen.
Das Stück Fleisch, das sie dann mit den Zähnen zerreißt, trieft noch von Blut. Blut ist süß und schmeichelt der Zunge, und niemals kann sie davon genug bekommen, von heißem, dampfendem Fleisch, von getöteten Tieren, hingeopfert für sie, hingeopfert für die Lust von Lippe und Zahn, von Zunge und Kehle.
Das Blut berauscht sie. Es erweckt erneut ihren Hunger. Ihr Schlund giert jetzt nach Süßigkeiten, nach überreifem Honig, nach Schokolade, sich darin zu wälzen, nach Nüssen, die zwischen den Zähnen krachen und ihr Aroma freigeben.
Längst ist das weiße Tischtuch besudelt von mancherlei Überbleibseln, von Speisen und Getränken, roter Wein und dunkle Schokolade streiten mit Blut und Fischrogen.
Ist sie satt? Niemals, denn sie ist unersättlich.
Aber jetzt, in dieser Spanne der Zeit, in der sie all die nährenden Substanzen in sich aufgesogen hat, kommen zwei andere der Schwestern zu ihr. Luxuria heißt die eine, Acedia die zweite. Und während Luxuria ihr wollüstige Träume sendet, gießt Acedia wonnige Trägheit über ihr aus.
Das allerdings wird nicht lange dauern. Die Stadt und das Restaurant sind bereits dabei, das nächste Gastmahl vorzubereiten und aus aller Welt herbeizuziehen, was Gula verschlingen möchte - denn sie ist niemals satt, wir wissen es, aber für einen Moment versinkt sie in das Dämmerlicht ihrer Herkunft.
Denn: Wenn sie jetzt ein Blutegel am Leib der Menschheit und der Welt ist - ihre Herkunft ist anderer Art.
Sie ist geboren von Menschen, auch wenn sie jetzt zu derer strenger Herrin geworden ist.
Vom Mutterleib an ist es da. Das Bedürfnis, zu nehmen. Zu saugen, zu trinken, zu schlucken und zu behalten. Unschuldige, nährende Dinge, die vonnöten sind. Man muss nehmen, um zu leben. Und andere geben gern.
Sie ist die Mutter aller Lebewesen. Sie ist zu Beginn schon der Schlund, die Gier, das Verschlingen, das Haben-Wollen. Das ist richtig. Nur so wächst und gedeiht alles, was auf der Welt ist.
Dann aber, irgendwann geschieht es. Die Umkehr.
Irgendwann muss man zurückgeben. Sie hat es nicht gelernt.
Vielleicht hat irgendjemand vergessen, es ihnen allen zu sagen: Dass sie auch spenden müssen, wenn sie empfangen. Dass sie sonst zum Schwarzen Stern werden, der alles verschluckt.
Und so wird sie zu der Herrin, die sie ist. Nun hat sie ihre Klientel unter dem menschlichen Geschlecht. Nur unter ihm, denn ihm gehört sie zu.
Das sanfte wie das wilde Tier ist nicht in ihrer Gefolgschaft zu finden. Das Tier frisst, um zu überleben.
Sie indessen verschlingt jetzt nur, um zu haben. Ihr soll alles gehören. Sie begreift nicht, dass die Tafel irgendwann nicht mehr gedeckt ist. Dass die anderen, die nicht ihre spitzen Zähne haben, sondern löcherige Gebisse, und keine Augen aus Onyx, sondern solche, an deren entzündeten Rändern Fliegen sich ergötzen, und keine schwarze Robe tragen, sondern Fetzen am Leib und nackte Füße dazu - dass sie ihr irgendwann nicht mehr dienen werden. Nicht, weil sie es nicht wollen. Sie sind für einen eigenen Willen viel zu erschöpft. Nur, weil sie es nicht mehr können.
Und mit ihnen der ganze ausgelaugte Planet.
Indessen erholt sie sich zu ihrem nächsten Fest-Fraß.
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