Werbung

Moskau sieht erst einmal Kiew am Zug

Außenministerium fordert: »faschistische« Milizen entwaffnen / NATO uneins über Stärke russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine / Bewaffnete in Donezk stellen Bedingungen / Antisemitische Flugblätter lösen Besorgnis aus

  • Lesedauer: 7 Min.

Berlin. Nach der Einigung auf einen Friedensplan für die Ukraine sieht auch Moskau zunächst die Ukraine am Zug. Kiew müsse »faschistische« Milizen entwaffnen, erklärte Russlands Außenministerium. Der Westen forderte hingegen rasche konkrete Schritte Russlands. US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel fassten weitere Sanktionen ins Auge, »falls sich diese Deeskalation nicht in kurzer Zeit vollzieht«, hatte das Weiße Haus am Donnerstagabend nach einem Telefonat der beiden mitgeteilt.Das Außenministerium in Moskau wies die Drohungen als »inakzeptabel« zurück. »Es entsteht der Eindruck, dass die Sanktionssprache für Washington immer mehr die Diplomatie ersetzt«, hieß es. Derweil eroberten ukrainische Regierungseinheiten bei Kramatorsk zwei gepanzerte Fahrzeuge zurück. Niemand sei verletzt worden, berichteten örtliche Medien.

In der NATO gibt es nach »Spiegel«-Informationen unterschiedliche Einschätzungen über die Stärke russischer Truppen an der ukrainischen Grenze. Geheimdienste einzelner NATO-Staaten widersprächen der Aussage des NATO-Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen, Moskau habe bis zu 40.000 Soldaten an der Grenze zusammengezogen. Demnach seien es weniger als 30.000, möglicherweise weniger als 20.000.

Bewaffnete in Donezk stellen Bedingungen

Die für Unabhängigkeit von Kiew eintretenden Kräfte in der krisengeschüttelten Ostukraine haben Bedingungen für ihre Entwaffnung gestellt. Der Militäreinsatz der ukrainischen Machthaber gegen die eigene Bevölkerung müsse beendet werden, sagte Miroslaw Rudenko am Freitag in Donezk. Außerdem wollten die Aktivisten das Recht auf eine russische Staatsbürgerschaft, um Moskau gegebenenfalls um Beistand bitten zu können. Bei internationalen Krisengesprächen in Genf hatten Russland, die EU und USA sowie die Ukraine vereinbart, dass zur Lösung des Konflikts alle nicht-staatlichen Gruppierungen entwaffnet werden müssten. Auch besetzte öffentliche Gebäude und Plätze seien freizugeben.

Aktivist Rudenko sagte, dass auch der neonazistische und gewaltbereite »Rechte Sektor« aus der Westukraine seine Waffen abgeben müsse. Die Rechtsradikalen waren maßgeblich am Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch im Februar beteiligt gewesen. Sie stehen im Ruf, weiter Einfluss auf die Führung in Kiew zu haben. Erst am Donnerstag hatte die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti gemeldet, dass der »Rechte Sektor« gedroht habe, das Oberste Verwaltungsgericht in Kiew zu stürmen. Der Grund: Bei der Wahl des neuen Gerichtspräsidenten stehen unliebsame Kandidaten auf der Abstimmungsliste. Unter Berufung auf die ukrainische Nachrichtenagentur Unian hieß es, die Rechtsradikalen forderte, die sich vor dem Gerichtsgebäude in Kiew versammelt haben, zwei Richter von Kandidatenliste zu streichen.

Russland sieht nach Angaben von Föderationsratschefin Valentina Matwijenko derzeit keine Notwendigkeit für einen Militäreinsatz in der Ukraine. Sie sei überzeugt, dass Kremlchef Wladimir Putin von seiner Vollmacht, russische Bürger in der Ukraine notfalls mit der Armee zu schützen, keinen Gebrauch machen müsse, sagte Matwijenko der Agentur Interfax zufolge am Freitag.

Antisemitische Flugblätter lösen Besorgnis aus

Die Lage in der Ostukraine bleibt auch nach den internationalen Krisengesprächen in Genf weiter gespannt. In der Stadt Slawjansk im Osten fielen in der Nacht zum Freitag Schüsse, als ukrainische Regierungstruppen einen Posten von Uniformierten stürmten, die für die Unabhängigkeit der Region eintreten. Unbestätigten Berichten zufolge soll mindestens ein Mensch gestorben sein. Inzwischen lässt der ukrainische Grenzschutz keine Russen im Alter zwischen 16 und 60 Jahren mehr einreisen - aus Angst, sie könnten die prorussischen Kräfte verstärken. Das Außenministerium in Moskau kritisierte die Einreiseverbote als Verstoß gegen internationales Recht. Dutzende Menschen würden an der Einreise gehindert, berichteten Medien in Moskau. Auch Journalisten seien von der Sperre betroffen. Die staatliche russische Fluggesellschaft Aeroflot hatte am Donnerstag über die Einreiseverbote informiert.

Derweil wird über antisemitische Pamphlete berichtet, die in der ostukrainischen Stadt Donezk verteilt wurden. Auf Flugblättern, die unter anderem vor der Synagoge der Stadt und in der Nähe der Universität verteilt wurden, seien Juden aufgefordert worden, sich registrieren zu lassen, andernfalls drohten Deportation und Beschlagnahmung des Besitzes. Die Jüdische Gemeinde von Donezk zeigte sich empört und sprach von einer Provokation, die Anti-Defamation League zeigte sich »skeptisch über die Echtheit des Flugblatts«. Die für die Eigenständigkeit der Region eintretenden Gruppen bestritten laut Berichten, für das Flugblatt verantwortlich zu sein. Auch Denis Puschilin, selbsternannter Regierungschef von Donezk, dessen Unterschrift darauf zu sehen ist, habe eine Urheberschaft dementiert. In den vergangenen Wochen hatte unter anderem Russland der ukrainischen Übergangsregierung vorgeworfen, von Antisemiten und Faschisten beeinflusst zu sein.

Berlin und Washington trauen Moskau nicht

US-Präsident Barack Obama hat sich zurückhaltend bis skeptisch zu dem in Genf vereinbarten Friedensfahrplan für die Ukraine geäußert. Zwar gebe es »eine aussichtsreiche öffentliche Erklärung« über eine Entwaffnung illegaler Milizen. Doch angesichts der Erfahrungen in der Vergangenheit könne man nicht mit Sicherheit mit einer Verbesserung der Lage rechnen. »Ich glaube nicht, dass wir zu diesem Zeitpunkt über irgendetwas sicher sein können«, sagte Obama wenige Stunden nach Ende der Genfer Gespräche am Donnerstag in Washington. Er habe mit Bundeskanzlerin Angela Merkel telefonisch über die Entwicklung gesprochen, sagte Obama weiter. Die USA und die EU würden weitere Sanktionen vorbereiten, falls Russland sich nicht an die Vereinbarungen hält. Er werde auch mit dem britischen Premier David Cameron telefonieren.

Merkel und Obama hätten betont, Russland müsse »sofortige, konkrete Schritte unternehmen, um die Situation in der Ostukraine zu deeskalieren«, teilte das Weiße Haus nach dem Telefongespräch mit. Moskau müsse seinen Einfluss auf die illegalen Kräfte ausüben, damit diese ihre Waffen niederlegten. Die USA und die EU seien zu weiteren Maßnahmen bereit, »falls sich diese Deeskalation nicht in kurzer Zeit vollzieht«, heißt es in der Erklärung. Die USA werfen Moskau seit längerem vor, hinter den Separatisten in der Ostukraine zu stehen. Die russische Regierung hat das stets zurückgewiesen. Zu der Genfer Einigung über eine schrittweise Deeskalation gehört auch die »Entwaffnung illegaler bewaffneter Gruppen« in der Ukraine - also nciht nur im Osten. Dies könnte auch dahingehend verstanden werden, dass der »Rechte Sektor«, der die Kiewer Übergangsregierung unterstützt hat, ebenfalls entwaffnet werden müsse. Außerdem heißt es in der Erklärung, alle Seiten müssten jegliche Gewaltanwendung, Einschüchterungen und Provokationen unterlassen.

Parallel zu den Gesprächen in Genf hatte sich Russlands Präsident Wladimir Putin bereit zu einem »echten Dialog« gezeigt. Weder Flugzeuge noch Panzer könnten die Krise beenden, sagte er bei einem landesweit übertragenen TV-Auftritt. Zugleich warf er Kiew vor, Gewalt gegen die eigene Bevölkerung auszuüben. Vorwürfe, die Separatisten würden vom russischen Militär gesteuert, wies er scharf zurück. »Es gibt im Osten der Ukraine überhaupt keine russischen Einheiten.«

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon begrüßte die Ergebnisse der Genfer Gespräche. Es sei ermutigend, dass sich die Beteiligten auf konkrete Schritte einigen konnten. Dialog sei der einzige Weg zur einer friedlichen Lösung. Ban betonte aber, die Lage bleibe weiter sehr labil. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier meinte: »Der Frieden ist noch nicht gewonnen in der Ukraine, und wir sind noch lange nicht am Ziel.« Doch die Chance sei zurück, dass eine Spaltung der Ukraine vermieden werden könne.

Derweil hat FDP-Vize Wolfgang Kubicki das Vorgehen der NATO im Ukraine-Konfliktals Fehler bezeichnet. »Die Tatsache, dass die NATO nun Kräfte an die sogenannten Ostgrenzen verlegt und die Beteiligung der Bundeswehr daran halte ich nicht nur für extrem kontraproduktiv«, sagte der Kieler Fraktionschef der Nachrichtenagentur dpa. »Das ist auch extrem gefährlich.« Kubicki riet dazu, den Dialog mit Kremlchef Wladimir Putin und der russischen Bevölkerung zu intensivieren. »Die sehr hohe Zustimmung für Putins Politik muss uns doch zu denken geben«, sagte er. Es sollten so viele Russen wie möglich für Gespräche nach Europa kommen und so viele Europäer wie möglich nach Russland. »Wenn man miteinander redet, schießt man nicht aufeinander und man beginnt auch, einander zu verstehen.«

Auch der CDU-Wirtschaftsrat warf der Europäischen Union in der Ukraine-Krise schweres Fehlverhalten gegenüber Russland vor und fordert Gespräche mit Moskau über die Sanierung der ukrainischen Staatsfinanzen. Verbandspräsident Kurt Lauk sagte der Deutschen Presse-Agentur in Berlin: »Die russische Politik war in den letzten 25 Jahren sehr klar, was die Ausweitung der EU und NATO betrifft. Moskau hat zu Polen, Ungarn und sogar den Balten gesagt: Okay, aber bitte nicht weiter. Bei der Entwicklung in der Ukraine wurde das missachtet.« Lauk betonte: »Man hätte mit Russland reden müssen.« Nun gehe es darum, Gesprächsfäden nach Moskau zu knüpfen und zu halten. Die Ukraine stehe kurz vor dem Staatsbankrott. »Da kann es nur einen gemeinsamen Vorschlag der Europäischen Union und Russlands zur finanziellen Sanierung geben.« Er warnte: »Es kann schwer sein, dass der Internationale Währungsfonds den bankrotten Staat mit unseren Steuergeldern unterstützt und die neue Regierung in Kiew das Geld sofort an Putin für Gaslieferungen überweist.« Es müsse klar sein, dass Russland ein wichtiger Handelspartner sei. 2012 hätten die 30 deutschen Dax-Unternehmen dort 22 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftet und 48 000 Mitarbeiter beschäftigt. Agenturen/nd

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.