Warten auf den Protestfrühling
Das Politische gerät in Konflikt mit der Politik - nicht nur, aber auch am 1. Mai
Während in Spanien, Frankreich und Italien der Protestfrühling wirkungsvoll begonnen hat, bleibt in Deutschland nach wie vor alles ruhig. Nennenswerten Protest gibt es im neoliberalen Musterland nur sporadisch. Neben Hamburg, das im Winter eine regelrechte Revolte erlebte, spielt vor allem Berlin mit den Flüchtlings- und Mietprotesten eine zentrale Rolle, wobei im Berliner Stadtteil Kreuzberg prismatisch eine Vielzahl aktueller sozialer Bewegungslinien sichtbar wird.
Kreuzberg gilt seit Jahrzehnten als Symbol widerständiger politischer und sozialer Praktiken von den Hausbesetzungen der 80er, der autonomen Szene und dem für die Medien so wichtigen 1. Mai bis hin zu neueren Bewegungsformen wie der stetig anwachsenden Kampagne gegen Zwangsräumungen und den jüngsten Flüchtlingsprotesten am Oranienplatz. Politischer Protest in Kreuzberg hatte immer etwas mit der Aneignung von Räumen zu tun, um politische Forderungen zu formulieren oder um gesellschaftliche Gegenentwürfe im Stadtraum Wirklichkeit werden zu lassen. Das war in der Häuserkampfbewegung so, die Immobilien-Privateigentum im Zuge von Besetzungen vergesellschaftete und in kommunitäre Wohnformen überführte. Und auch die Autonomen mit ihrer Politik einer Territorialisierung besetzter Häuser, erkämpfter Jugendzentren und selbstorganisiert gestalteter Kiezstrukturen richteten ihre politische Praxis immer entlang einer Aneignung urbaner Räume aus.
Der früher an der Berliner Mauer, außerhalb einer immobilienwirtschaftlich interessanten Verwertung gelegene Bezirk Kreuzberg eignete sich bis Ende der 80er Jahre als Arena radikaler politischer Experimente und damit einhergehender Aneignungskämpfe. Einen symbolischen Höhepunkt erlebte dieses Ensemble politischer Praktiken am 1. Mai 1987, als im Zuge eines Polizeieinsatzes zahlreiche Akteure, die bei weitem nicht alle aus der »linken Szene« stammten, sich stundenlange Straßenschlachten mit Polizeikräften lieferten, diese vertrieben und Kreuzberg für einige nächtliche Stunden dem Zugriff staatlicher Macht entzogen.
In einer vulgär-herrschaftskritischen Geste wird von manchen immer wieder versucht, dieses Ereignis jährlich zu einer Wiederaufführung zu bringen. Wobei die regelmäßig vorgebrachte Kritik am vermeintlich unpolitischen Gewaltritual nicht über die Bedeutung des 1. Mai als »politischer Kampftag« einer mittlerweile nicht mehr geschichtslosen radikalen Linken hinwegtäuschen sollte. Außerdem gilt es zu unterscheiden zwischen einer politischen Großdemonstration und einem Randale-Ritual, bei dem auch mal ein im Urlaub befindlicher Bundespolizist Pflastersteine auf seine Kollegen wirft, wie das 2009 geschehen ist.
Ausgerechnet in Kreuzberg, der ehemals heruntergekommenen Peripherie West-Berlins, das nun im Zentrum der städtischen Aufwertung liegt, finden aktuell verstärkt politische Kämpfe um die Verfügbarkeit und Aneignung von Räumen statt: mit dem Flüchtlingsprotest am Oranienplatz, der Kampagne gegen Zwangsräumungen, den Mietprotesten der Nachbarschaftsinitiative »Kotti und Co«, den symbolischen Besetzungen ehemaliger GSW-Häuser rund um das Schlesische Tor und der hitzig geführten Debatte um die mögliche Bespielung der Cuvry-Brache mit dem Think-Tank der Guggenheim-Stiftung. So unterschiedlich diese Protestformen und ihre Akteure auch sind, so knüpfen sie dennoch an politische Praktiken einer »regionalen« Kreuzberger Vergangenheit an und überführen diese gleichzeitig in Formate, die auf der Höhe der Zeit im Kontext internationaler Protestbewegungen stehen.
Denn in Kreuzberg sind neben der von Medien und Berliner Senat im Zuge der Flüchtlingsproteste so kritisierten »Autonomen« vor allem ganz neue Akteure auf der Straße und auf den Plätzen unterwegs. Wie während der Umstürze in der arabischen Welt oder auch bei den europäischen Krisenprotesten, den spanischen Empörten und Occupy (inklusive nachfolgender Organisierungen) wurden Menschen mobilisiert, die bisher kaum politisch aktiv waren. Vielmehr gehen die Verlierer der neoliberalen Wende auf die Straße, die im finanzialisierten Krisenkapitalismus einer neuen Qualität sozialer Abstiegs- und Ausgrenzungsmechanismen ausgesetzt sind. Bei »Kotti und Co« sind es ganz »normale« Mieter, die sich kollektiv auf pragmatische Art zur Wehr setzen. Im Zuge der Kampagne »Zwangsräumungen verhindern« treffen linke Aktivisten und prekarisierte, von Verdrängung bedrohte Kiezbewohner aufeinander. Und in den Flüchtlingsprotesten wehren sich Menschen gegen Abschiebung und nutzen dafür das weltweit verankerte Format der Platzbesetzung.
Bei der Räumung des Flüchtlingscamps am Oranienplatz wurde ein grundlegender Aspekt deutlich, der in allen internationalen Protestbewegungen eine zentrale Rolle spielt. Eine politische Bewegung, die von der Basis her selbstorganisiert handelt, steht der Politik als einem routiniert ablaufenden, institutionalisierten Betrieb inklusive Parlamenten und Polizei gegenüber. Dieser Gegensatz zwischen dem Politischen und der Politik (le politique und la politique im Französischen, the political und politics im Englischen) ist etwas, womit sich Politiker in Deutschland kaum befassen müssen, in Südeuropa spielt dies immerhin noch eine größere Rolle.
So ließe sich die Absicht des früheren griechischen Regierungschefs Giorgos Papandreou, ein Referendum (wie in Island 2010) über eine Annahme oder Ablehnung der Sparprogramme abzuhalten, nachdem wochenlang der Platz vor dem Athener Parlament besetzt worden war, als Versuch werten, die Sphäre des Politischen mit der Politik kurzzuschließen - im neoliberal-autoritären Europa ist das derzeit aber nicht möglich. Die politische Klasse der hegemonialen Kernländer intervenierte entsprechend, das Referendum kam nicht zustande.
Die Unfähigkeit des Berliner Senats, mit den Flüchtlingen zu kommunizieren und einfachste Verabredungen zu treffen, ist direkter Ausdruck dieses Unverständnisses der Politik gegenüber dem Politischen als schwer fassbarem Phänomen, das sich informell und kollektiv, unter Umständen auch spontan organisiert. Eine wirkliche Interaktion ist von Seiten der Politik auch gar nicht vorgesehen. Besonders deutlich wurde das bei der Räumung des Oranienplatzes, die als »freiwillig« tituliert quasi wie eine Aussöhnung des Senats mit den Flüchtlingen - der Politik und des Politischen - inszeniert wurde, in Wirklichkeit aber eine generalstabsmäßige polizeiliche Räumung inklusive Prügel und Festnahmen war. Als Tage später die letzte Besetzerin aus einer Platane geholt wurde, stand wie in einem Schachspiel eine Einsatzhundertschaft um den Baum herum, ein riesiger Kran wurde herbeigeschafft und der untere Teil des Baumes sogar mit einem Sichtschutz verdeckt.
Der politische Kampf um die Räume in Kreuzberg geht derweil in die nächste Runde. Am 1. Mai blickt die Journaille wieder gebannt auf die polizeilich abgesicherte Sauf- und Konsummeile, während die linke 1. Mai-Demonstration um 18 Uhr das durchökonomisierte Festgelände nur ganz am Rande streifen darf. Der große Unterschied am 1. Mai ist in diesem Jahr, dass die zum Teil heftig geführten politischen Auseinandersetzungen um die Aneignung von Räumen keine historische Erinnerung an die längst vergangenen und gerne heroisierten 80er Jahre sind. Wir befinden uns wieder mitten in einer ganzen Reihe politischer Kämpfe um Kreuzbergs Räume. Immer häufiger finden Spontandemonstrationen statt, die etwa mittags nach einer Zwangsräumung den Verkehr am Kottbusser Damm zum Erliegen bringen oder wie zuletzt nach einer Diskussionsveranstaltung zur Räumung des Flüchtlingscamps durch die Oranienstraße führen.
Am heutigen Mittwoch sollen die im Hungerstreik befindlichen Flüchtlinge der Rock-Bühne des Myfestes Platz machen, so dass wieder einmal der Oranienplatz geräumt wird, um das Politische unsichtbar zu machen. Und die Auseinandersetzungen gehen weiter. Mitte Mai soll auf dem Oranienplatz im Zuge der dezentralen Blockupy-Aktionen gegen das europäische Krisenregime demonstriert werden. Der Protestfrühling 2014 fängt gerade erst an.
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