Icke bin icke
Jürgen Kuttner über DDR-Jugendkultur, die Endzeit von DT64 und seinen Start als Moderator
nd: Sie beteiligen sich am DT64-Festival mit einem »Videoschnipsel«-Vortrag zur »Jugendkultur in der DDR«.
Kuttner: Ja, irgendwie so was, ich weiß es auch noch nicht genau.
Aber die »Schnipsel« haben Sie schon zusammen?
Ich habe mehr, als ich brauchen kann, ja. Ich muss da noch aussortieren.
Nach welchen Prämissen?
Na danach, was mich interessiert. Es gab nach dem Mauerfall so eine komische Modernitätsverschiebung. Heute heißt es, Ostler fanden immer den Westen cool: Jeans, Popmusik, dieses ganze Zeug - und ab den Siebzigern war das auch so. Aber für die erste Hälfte der 60er Jahre stimmt es nicht. Da war die DDR erstaunlicherweise gerade in ihren Unterhaltungsformaten extrem modern.
Zum Beispiel?
Was Brigitte Reimann den »Ankunft im Alltag« nach dem Mauerbau nennt, diese Selbstbesinnung, die lässt sich auch medial nachvollziehen. Während im Westen die ganze Unterhaltungsmedienindustrie gewissermaßen noch Opas Fernsehen war – die große Samstagabend-Revue, die Heinz-Erhard-Gemütlichkeit mit Äpplwoi und so –, wurden in der DDR eine Menge interessanter Formate entwickelt. Es gab so eine wunderbare Sendung, die Ponesky gemacht hat ...
Ponesky?
Hans-Georg Ponesky war ein Moderator. Es gibt da einen tollen, aber gleichzeitig auch traurigen, Ausschnitt, wo er – was später unvorstellbar war – bei Ulbricht anruft. Lotte geht ans Telefon. Ponesky: Ja, wir sind hier gerade im Friedrichstadtpalast, wollen Sie nicht vorbei kommen? Und tatsächlich wird Ulbricht dann auf die Bühne gekarrt und Ponesky macht Unterhaltung mit dem. Natürlich hatte das immer auch diese komische ideologische DDR-Enge. Es endet nämlich damit, dass da so ein alter Sozialdemokrat gedemütigt wird durch Ulbricht. Aber trotzdem: Das waren total interessante Formen ...
… die Ihnen als großem Radio-Improvisator schon durch ihre Spontanität nahe sind?
Ja, das hatte Lebendigkeit und wirklich einen Alltagsbezug. Es war eben nicht dieses Träumen von einer anderen Welt, von Moulin-Rouge-Frauen oder griechischem Wein. Es gab da auch so eine Sendung in einem Armee-Klubhaus, wo die Frauen irgendwelcher Offiziere als Latino-Schönheiten verkleidet auf der Bühne standen und Musik machten, und die Männer wussten nichts davon und wurden überrascht. Solche Geschichten unterlaufen Klischees. Oder Heinz-Florian Oertel, der hatte die Sendung »Schlager einer kleinen Stadt«: Die zogen immer rum und machten so Stadtporträts, Radeberg zum Beispiel: was sind da so die Produktionsschlager? Dann haben die da den Straßenschlager gesungen, oder die Angehörigen des Fernsehkombinats, hübsche Mädels, haben dann Schlager gesungen. Das war total toll, also am Alltag dran, und hatte eine Modernität, die dann aber 1967/68 mit dieser westlichen Jugendbewegung einfach überholt wurde und damit nicht Schritt halten konnte.
Stattdessen wandte sich die DDR-Unterhaltung ins eher Konservative.
Ja, und das war der Grund, warum wir 1986 dieses Blasorchester gegründet haben …
… die Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot …
Genau. Nämlich, um diese Musiken von Eisler, Busch, Brecht und so weiter vor diesem komischen staatlichen Zugriff zu retten, den es in den Achtzigern andererseits eigentlich gar nicht mehr so gab. Von diesen ganzen Widersprüchen versuche ich ein bisschen zu zeigen. Und da fällt bestimmt auch DT64 rein.
Inwiefern?
Schon die Gründung eines Jugendradios gibt ja zu erkennen, dass es offensichtlich geschmackliche Differenzen gab. Sicher spielte auch das Interesse einen Rolle, die Jugend nicht der westlichen Mode anheimfallen zu lassen und ein ideologisches Gegenprogramm zu liefern. Aber gleichzeitig hatte das von der Form her so eine Fortschrittlichkeit, die bemerkenswert war und die dann, glaube ich, auch zu diesem Mythos DT 64 geführt hat, der ja eigentlich ein Nachwende-Mythos ist. Das fing an mit Silke Hasselmann, die 1988 nach dem Verbot der sowjetischen Zeitschrift »Sputik« ins Mikrofon sagte: »Heute ist ein Sputnik abgestürzt.« Dann kam dieses aufregende Dreivierteljahr zwischen Herbst 89 und Wiedervereinigung, wo die dann wirklich tolles, innovatives, interessantes, gutes journalistisches Programm gemacht haben, das irgendwie alle gehört haben.
Sie selbst sind erst 1991 zu DT 64 gestoßen, als der Sender schon auf der Kippe stand, ohne jegliche Radioerfahrung. Wie kam es dazu?
Irgendwie hatten die da, um den Sender zu retten, was besetzt und haben Piratenradio gemacht oder so. Da waren wir eingeladen mit dem Blasorchester, das sich mit DT64 solidarisierte. Und dann fiel da ein Moderator aus, weil der Liebeskummer hatte und besoffen war, und da haben die mich gefragt, ob ich nicht mit dem Ü-Wagen in den Prenzlauer Berg fahren will: Kneipenreportage.
Warum gerade Sie?
Weil ich beim Blasorchester immer die Ansagen gemacht habe. Mich kannten da welche und wussten, dass ich quatschen kann. Das war dann mein erster Radioeinsatz: Ich bin mit dem Ü-Wagen rumgefahren und habe in der Kollwitzstraße Leute interviewt. Und das hat sich denen offensichtlich so eingeprägt, dass ich dann zu »Rockradio B« geholt wurde, als im Dezember 1991 klar war, dass der ORB diesen Jugendsender gründet.
1992 sendeten DT64 und das neue »Rockradio B« zunächst auf derselben Frequenz – eine turbulente Zeit.
In der Rückschau wird klar, dass die Akteure in dieser Auseinandersetzungen zwischen »Rockradio« und DT64 nur Marionetten westlicher Partei- und Rundfunkpolitik waren: Der MDR hatte DT64 übernommen in der Hoffnung, mit dem vom Bayerischen Rundfunk kommenden Intendanten einen Fuß in die Berliner Tür zu kriegen gegen dieses rot-rote Berlin-Brandenburg. Der ORB hat da aber zurückgeschossen, jedenfalls in Brandenburg, und einen eigenen Jugendsender gegründet. Der sollte ab 1. Januar 1992 auf Sendung gehen. Das ging dann alles extrem schnell und lief für mich darauf hinaus, dass mir Ronald Galenza am ersten Weihnachtsfeiertag 1991 einen Zettel an die Tür gehängt hat, ob ich nicht Lust hätte, Radio zu machen. Als die nämlich ihre Truppen sammelten für »Rockradio B«, haben sie festgestellt, dass die DT64-Leute, die zum neuen Sender gegangen sind, alles Musikredakteure waren. Sie brauchten also jemanden, der journalistisch etwas mit dem Wort zu tun hat.
Und da kamen Sie auf Kuttner?
Ja, einerseits wegen des Blasorchesters, andererseits, weil ich damals die Ost-»taz« gemacht habe und deshalb freie Journalisten kannte. Die gab es ja zu der Zeit im Osten, wo alle fest angestellt waren, eigentlich gar nicht. Dann haben wir zwischen Weihnachten und Silvester 1991 dagesessen und quasi das Programm gemacht.
Wobei auch das Konzept für den »Sprechfunk« entstand, die legendäre Sendung, mit der Sie in der Folgezeit Furore machten?
Ja, es gab die Ansage, »Talkradio« wäre doch irgendwie cool. Es lief damals auch gerade der Oliver-Stone-Film mit diesem Titel. Ich sollte das moderieren, weil ich so viel quatschen konnte. Und vielleicht übrigens auch, weil im Film der Moderator ja erschossen wird.
Gottlob leben Sie auch 22 Jahre später noch.
Ja, irgendwie habe ich Glück gehabt.
Liegt der Grund dafür, dass DT64 auch heute noch Kultstatus hat, in dieser Zeit begründet, in der ja auch Zehntausende für den Erhalt des Senders auf die Straße gingen?
Ja, das war schon etwas Identitätsstiftendes. Der Ruhm des Senders, glaube ich, liegt zu 80 Prozent an diesem heroischen letzten Jahr mit Demonstrationen, Anketten, Freundeskreis und so weiter. Die Hörer, die damals 20 waren, sind heute 45. Für die leben die Erinnerungen an diese Zeit fort. Deren Demonstrieren für DT64 war ja auch ein politischem Statement: Man zeigte damit, dass man sich überhaupt nicht schämen muss, aus dem Osten zu kommen. Dazu kommt, dass DT64 in diesen Ostbiografien die Musiksozialisation enorm geprägt hat. Ich habe das auch immer gehört: »Duett – Musik für den Recorder«, da hat man dann Jethro Tull oder irgendwas mitgeschnitten, weil man eben nicht so den Zugang zu diesen Platten hatte. Oder auch Lutz Schramm, den man nicht umsonst den »John Peel des Ostens« nannte, mit seinem »Parocktikum«: Das war ja wirklich etwas, das deutschlandweit sonst überhaupt nicht stattfand. Das hatte eine Progressivität, die erstaunlich ist.
Ein Unikat in der Rundfunklandschaft war dann auch Ihr »Sprechfunk« im »Rockradio B« und später auf »Radio Fritz«: ein sehr offener, spontaner Nacht-Talk mit Hörern, allerdings immer unter der Prämisse, dass Sie das absolute Diktat über die Regler und über den Verlauf der Gespräche haben.
Ich saß eben einfach hinterm Mikrophon und wusste, dass ich ein schlechter Schauspieler bin: Ich kann nicht den perfekten, allwissenden Moderator mit der sonoren Stimme geben. Außerdem fand ich es beleidigend, wenn sich manche Kollegen partout nicht anmerken lassen wollten, dass sie Ostler sind. Also habe ich gesagt: Ick bin icke, und ich stelle mich so dar, wie ich bin. Zu meinem Ethos gehörte aber immer, dass ich versucht habe, die Leute nicht vorzuführen. Wenn das doch mal passierte, dann haben die sich selber vorgeführt oder als blöd dargestellt. Unleidlich oder besonders robust bin ich nur dann geworden, wenn die Leute die Spielregeln der Sendung nicht begreifen wollten, nämlich dass das so ein rhetorisches Pingpong ist. Der Ansatz war eben nicht, sich vordergründig irgendwelchen komischen Themenvorgaben oder einer Aktualität unterzuordnen, sondern der Versuch, an die Erfahrungen der Leute ranzukommen. Ich wollte die zwingen, »Ich« zu sagen. Und wenn sie dazu nicht bereit waren, dann war ich sicher auch mal irgendwie heavy.
Offensichtlich hat der Sender Ihnen Narrenfreiheit gewährt – hat auch das mit der Zeit zu tun, dass Sie machen konnten, was Sie wollten?
Auch. Aber eigentlich lag das daran, dass die Sendung so erfolgreich war. Und erfolgreich war es, glaube ich, weil es die Ausnahme war, dass man so einen Typen relativ reell in so einem Medium erlebt, wo sonst alle sofort in diese Rolle des Entertainers schlüpfen. Und dann saß ich eben da, und wenn ich was nicht wusste, dann wusste ich das nicht, und wenn ich was wusste, habe ich angegeben wie eine Tüte Mücken. So war das.
Wobei man dazu sagen muss, dass Sie oft genug Anlass hatten, sich wie die Mückentüte zu fühlen. Dank Ihres breiten Wissens war der »Sprechfunk« letztlich auch Bildungsradio.
Stimmt, das spielt schon eine Rolle, dass ich in gewisser Weise auch überqualifiziert war für den Job oder jedenfalls für die normale Jobbeschreibung, weil ich eben an bestimmten Punkten ein bisschen mehr wusste. Aber das kam, hoffe ich, eben nicht so Deutschlandfunk-spezialistenmäßig daher. Die »Rockradio«-Formatierung über Musik war das eine, das andere war der Gedanke: Das ist ein Jugendradio, wir müssen also Sachen machen, die die Jugend interessieren. Mein Ansatz war da aber eher, den Leuten Sachen interessant zu machen, für die sie sich noch nicht interessieren, weil sie nichts davon wissen. Gleich am Anfang habe ich mal eine Sendung über Gottfried Benn gemacht. Es gibt da so ein paar Musiken, wo man Benn hört, dann liest Benn selber und ich habe auch gelesen. Und dann bin ich aber mit dem Aufnahmegerät auch noch zu meinen zwei Ärzten gegangen und habe die gebeten, Benn vorzulesen, weil Benn eben auch Arzt war. Die kannten das gar nicht und waren ziemlich perplex. Das hat den Leuten irgendwie Spaß gemacht.
Jungen Leuten Sachen interessant machen, mit denen sie sonst vielleicht gar nicht in Berührung kommen: Das kann man auch über die Musik sagen, die Sie im »Sprechfunk« gespielt haben – skurrile Sachen teilweise. Funny van Dannen etwa habe ich erst durch Ihre Sendung kennen und schätzen gelernt.
Darauf bin ich stolz. Ich glaube, ich habe den in Berlin erst bekannt gemacht. Das Schöne an der Musik war, dass ich nicht so einem Novitätenzirkus verpflichtet war, sondern eigentlich immer die Sachen gespielt habe, die mir wirklich am Herzen lagen. Jeder hat doch so ein musikalisches Museum im Kopf – das fängt an mit Kinderliedern, Weihnachtsliedern, im Osten auch so politische Pionierlieder und so fort. Dann kommen die, zu denen man das erste Mal getanzt hat und für die man sich später eigentlich schämt: Schlager, die man als Achtjähriger mitgesungen hat. Und dann wird man 14, 15 und braucht diese Abgrenzungsmusik und so weiter. Und ich habe einfach versucht, diese Buntheit bei mir im Programm abzubilden. Es war nicht vordergründig der Ehrgeiz, nur andere Musik als die anderen zu spielen, sondern Sachen, die im Radio eigentlich nicht vorkommen, die ich aber für total interessant halte. Funny van Dannen gab es bis dahin nicht im Radio. Oder Maria Callas in einer Jugendsendung! Oder Ernst Busch. Das löste ja dann wirklich für drei Wochen so ein Ernst Busch-Fieber aus. Es macht mir einfach Spaß, ein Gefühl dafür zu vermitteln, dass man das alles auch aus diesen Schubläden herausholen kann, in denen das liegt. Ernst Busch = Kommunismus, brrr. Nein, der hat eben auch einen Schwung Punk in der Stimme und eine Kraft, die diese Lieder – unabhängig vom Kommunismus – zu bemerkenswerter, interessanter Kunst macht, die man kennen sollte oder kennen kann.
Kuttner im Babylon: 9.5., 21 Uhr
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