Müllplatz der Beliebigkeiten
Theatertreffen: Münchner Kammerspiele zeigen »Tauberbach«
Der flämische Regisseur Alain Platel, so heißt es, habe einen »Clash der Leiber«, einen »Bastardtanz« inszeniert. Was soll man sich dabei denken? Unter dem Titel »Tauberbach« zeigen die Münchner Kammerspiele eine Tanztheaterproduktion, die sich in ihrer Hermetik eigentlich dem entzieht, was Theaterkritik leisten kann. Aber da diese neunzig Minuten Körperekstase vorgeben, einen Inhalt zu haben, muss man sich dem Phänomen wohl zuwenden, dass man das eine hier auf der Bühne sieht und das andere später darüber liest. Der Sinn dieser Körperübungen erschließt sich - wenn überhaupt - nur über einen nachgereichten Kommentar.
Mich erinnert das an Lars von Triers Film »Idioten«. Ein Gruppe von jungen Leuten entschließt sich darin, auf spezielle Weise auszusteigen. Sie spielen die Rolle von Geisteskranken, immer weiter und weiter, bis man als Zuschauer längst meint, nun sei es aber wirklich genug - aber sie hören nicht auf. Die Botschaft von Triers war klar: Ihr könnt uns alle mal gern haben! Das schlimme bei Platel, dessen Inszenierung »Tauberbach« ähnliche Elemente einsetzt, ist, dass man den Verdacht nicht los wird, dass sie hier mit ihrer Orgie der Entblößung und Zerstörung von Ordnungsmustern tatsächlich am Ende nicht mehr erreichen wollen als das eine: gerngehabt zu werden.
In Kurzfassung: Im Mittelpunkt steht eine schizophrene Frau, die in Brasilien auf einem Müllplatz lebt. Das fordere zu »Kommunikation und Interaktion« heraus, heißt es im Kommentar. Womit dann fünf Tänzer eingeführt sind, die sich abwechselnd an- und ausziehen, mit Farbe übergießen und andere Dingen tun, die nachträglich unter »Mitgenossen, Projektionen, Fantasie- und Fabelwesen« subsumiert werden. Alle haben sie hier ein Faible für ihre Zehen, die sie - wie kleine Babys - mit dem ersten Erstaunen des Auf-der-Welt-Seins auseinanderspreizen. Man zupft sich, so man ihn gerade anhat, gegenseitig am Slip, greift hinein - ach ja, das ewige Ziehen und Zerren des Geschlechts.
Aber wir waren bei der Frau auf dem Müllplatz in Brasilien. Lauter bunte Tücher zu kleinen Hügeln angehäuft, geben das Elendskolorit vor, das dann im Weiteren allerdings keine Rolle mehr spielt. Das Elend: ein Designerstück unter anderen, ab und zu summt einen Fliege aus den Lautsprechern, Verwesung signalisierend. Die Tänzer sind derweil damit beschäftigt, den von der Decke herabhängenden Mikrofonen immer wieder Schläge zu versetzen. Sie lassen sie dann pendeln. Aber sie hassen die Mikrofone gar nicht wirklich, sie suchen sie mit befremdlicher Penetranz. Sie sprechen dann in verschiedenen existenten und nichtexistenten Sprachen durcheinander, zusammen mit der Frau vom Müllplatz, die ständig Gott reden hört, der mit tiefergelegter Stimme auf Englisch ziemlich simple Dinge sagt, wie »I’m fine« oder »I’m happy«. Ein Stimmgewirr wie beim Turmbau zu Babel? Nur, dass hier nichts Gemeinsames entsteht, sondern jeder der Akteure sich als Einzelkämpfer zu profilieren versucht. Theater aber, das mehr als bloße Selbstbehauptung von Solisten ist, entsteht so nicht. Nach fünfunddreißig Minuten fällt auch der einzige Satz auf Deutsch, den die Inszenierung zu bieten hat, aber auch dieser steht da wie ein Wegweiser, dem niemand folgt: »Unter jedem Grabstein liegt ein Stück Weltgeschichte.«
Eine Rechtfertigung dieser Tanzperformance resultiert für jene, die sie zum Theatertreffen einluden, vor allem daraus, dass Alain Platel ein Projekt von Artur Żmijewski, bei dem Gehörlose Bach-Musik singen, mit einbezog. Das soll hier den quasi religiösen Part aus der Sicht von Behinderten übernehmen: ein Requiem aus Verzweiflung, Ekstase und Erlösung. Aber frei von jener Ehrfurcht vor seiner Kunstausübung, in die uns Platel hier hineinzwingen will, muss es erlaubt sein, anzumerken, dass es in »Tauberbach« doch meist zugeht wie im Taubenschlag. Es dreht sich um alles und um nichts zugleich.
Das scheint das Problem jener Form von »Körpermalerei« zu sein, jener »lebenden Bilder«, die schon in »Fegefeuer in Ingolstadt« (im Vollplaybackmodus!) zu erleben waren: Das Avantgardeprinzip, das ein geradezu narzisstischer Wille dazu treibt, Aufmerksamkeit (egal wie und womit) zu erregen, hat die Kunst längst hinter sich gelassen und beherrscht nun jene Massenkultur, in der es bloß noch um Selbstvermarktung geht. Ein Theater aber, das diese Mechanismen nur bedient, statt sie sichtbar zu machen, scheint überflüssig geworden.
Der Mensch in der Geschichte, mit seinen Geschichten. Diese zu erzählen, muss nicht konventionell sein, von gestern ist es schon gar nicht. Wer statt des Berliner Theatertreffens das fast gleichzeitig in Leipzig stattfindende sächsische Theatertreffen bevorzugte, erlebte darum auch anderes: moderne Inszenierungen, die sich keineswegs beim Publikum anbiederten, aber verständlich sein wollten. Dort sah man, was es in Berlin nicht zu sehen gibt, ganz im Sinne von Christoph Schroths einstigen »Zonenrandermutigungen«: Tilmann Köhlers Inszenierung von Christa Wolfs »Der geteilte Himmel« (mit einer faszinierenden jungen Schauspielerin: Lea Ruckpaul) vom Staatsschauspiel Dresden, Bogdan Kocas formal mutiger »Hamlet« aus Chemnitz (mit einem zu Recht preisgekrönten Hauptdarsteller Stefan Migge) oder auch Michael Funkes Bautzener Inszenierung von Marius Mayenburgs »Märtyrer« über religiösen Fanatismus und den Gegenfanatismus der »Aufgeklärten«, den dieser derzeit auslöst, mit einem herausragenden jungen Schauspieler: Jonas Lauenstein.
Es gibt sie also, jene Theater, Regisseure und Schauspieler, für die man sich als Zuschauer begeistern kann. Nur auf der großen Bühne in Berlin herrschen - trotz »Zement«, Dimiter Gotscheffs Vermächtnis - vor allem Eitelkeiten und Langeweile.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.