Sternenkind trifft Schattenmann
Die Galerie Horst Dietrich zeigt Werke des 2013 verstorbenen Albrecht Genin
Wenn er Notenblätter übermalt, stehen die Figuren mit dem Rücken zum Betrachter und schauen mit ihm in eine bizarre Notenlandschaft. Das übermalte Notenblatt ist wie die Kulisse für die auf der Weltbühne agierenden Figurationen. Die eigene Zeichnung oder Malerei überlagert und durchdringt sich mit dem Schriftbild des Notendrucks.
Von den kühlen und unerbittlichen Ordnungsreihen der Partituren hat sich der im Oktober vergangenen Jahres 67-jährig in Berlin verstorbene Albrecht Genin zu Assoziationen ganz eigener Art anregen lassen. Die mathematische Logik der Linien, Schriftzeichen, Zahlen und Symbole und die expressive Feinhörigkeit des bildenden Künstlers vereinigen sich zu einer Einheit der Gegensätze. Was in dem linearen System der Notenschrift anklingt, tönt als Echo - als Thema, Kontrapunkt, Melodie, Begleitung - in den gegenständlichen wie gegenstandslosen Gebilden der Malerei wider. Die Figurationen selbst scheinen sich echoartig in parallelen, aber ihre Form immer wieder neu deformierenden Erscheinungen zu wiederholen. Aus ihren Positiv- und Negativformen entwickelt sich die Grundmelodie für das ganze Bild. Es gibt in der Malerei Genins ein fühlbares rhythmisches Gesetz, die Gesetzhaftigkeit von Parallelen. Der Künstler überlässt sich der freien und spontanen Erfindung, aber er lenkt sie in die Bahnen seiner von Blatt zu Blatt wechselnden Bildgesetze.
Überblickt man das Gesamtwerk Genins, dessen Zentrum ja eigentlich die Malbücher bilden, die Bibel-Übermalungen, die römischen Messbücher, die Weltatlas-Übermalungen, aber auch die tagebuchartigen Reisebücher, in denen er von sich und seinen Weltbegegnungen in Europa wie im Nahen und Fernen Osten erzählt, kann man in faszinierender Weise miterleben, wie sich aus dem schlichten zeichnerischen Ansatz eine zunehmend komplizierter aufgebaute Konfiguration entwickelt, wie sich aus dem Tanz der Elemente eine hochorganisierte Choreografie der Zeichen entspinnt. Ganze Labyrinthe ineinander verwobener, ineinander fließender Formen entstehen. Formen entbinden andere Formen und sie ändern ständig ihre Gestalt.
Überhaupt hat der Malerpoet Genin seine Bilderserien als eine Art symphonischer Sätze gemalt. Aus mächtig strömenden Farbmassen blühen Edelsteingebilde kostbar auf, pathetischen Bogenschwüngen antworten zuckende grafische Detailballungen, kontrapunktisch werden Modulationen von Farbe zum Klingen gebracht. Die Farben entmaterialisieren sich zu Farbklängen, die Formen zu Klangfiguren, und rufen immer wieder die Assoziation zur Musik hervor.
Eine Bildwelt - ihr müssen noch die bemalten Stahlskulpturen zugerechnet werden -, die alle Skalen der Empfindung und Stimmung beherrscht, von ekstatischer Zerrissenheit über melancholische Traurigkeit bis zu unbeschwerter Heiterkeit. Mit sensitivem Instinkt überwindet Genin die Trennungswand zwischen außen und innen, oben und unten, Zeit und Ferne, um die durchsichtig werdende Materie und die zur Musik gewordene Optik eines malerischen Welterlebens zu definieren.
Wenn der unstete Weltenbummler Genin nun auch nicht mehr zu neuen Reisen aufbrechen wird, so bleibt er doch für uns der Vermittler zwischen den Kulturen des Okzidents und des Orients, der die Kulturen der Vergangenheit befragt, ihre Schriftzeichen überzeichnet, sie verfremdet und in neue Zusammenhänge gebracht hat. Seine Arbeit glich einem Stöbern in vielen Ritzen und Schlupflöchern der Kulturen, er holte sich seine Trophäen und Zeichen aus den Wirklichkeitserlebnissen und Träumen, der Kunst der Primitiven, den Mythen und kulturellen Sprüngen. Ständiger Reisebegleiter war ihm das Malbuch, das die Hülle bildet für ein poetisch gestaltetes Bild-Universum, ein Universum von Zeichen und Symbolen, in dem die Figuren von einer Wirklichkeit zu einer anderen wandern. Einmal stenogrammhaft, in rasender Eile, dann wieder Gleichgewicht, Balance, Takt, Echo, Tragen und Lasten, Schweben und Fließen. So entstehen Formsignale, Gestaltzeichen, die Figürliches assoziieren, Traum- und Erlebnisberichte.
Albrecht Genin - Sternenkind trifft Schattenmann. Galerie Horst Dietrich. Giesebrechtstr. 19, Mi-Fr 14-19 Uhr, Sa 11-15 Uhr, bis 14. Juni.
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