- Kommentare
- Kolumne
Lest Wehler im Feuilleton!
Politik und Medien lärmen sich mit Kleinigkeiten zu, meint Wolfgang Storz. Die entscheidende Zahl, das wichtigste Thema nennt ein Historiker im Kulturteil
Warum macht ein bestimmtes politisches Anliegen Karriere und steht im öffentlichen Mittelpunkt? Und das andere nicht? Das fragen sich Kommunikationswissenschaftler seit Jahrzehnten und momentan die Europa-Wahlkämpfer. Die Antworten sind vielfältig: Die Sprache (Verständlichkeit, Zuspitzung, Bildhaftigkeit) spiele eine bedeutende Rolle ebenso wie die Bereitschaft, Energie und (finanziellen) Ressourcen, einen Sachverhalt, ein Argument, eine Forderung hartnäckig zu wiederholen; am besten in leichten Variationen, damit die Kampagne vertraut bleibt, aber nicht langweilig wird. In Kreisen der Linken ist noch die Verschwörungsthese beliebt: Das Kapital, das Medien und öffentliche Meinung steuert, dirigiert nach eigenem Gutdünken. Antworten, die richtig sein können - oder auch nicht.
Sicher wissen wir, dass in diesen Monaten - abgesehen von der Ukraine-Krise - Themen wie die Mütterrente, der Mindestlohn und die Rente mit 63 beharrlich im Mittelpunkt stehen. Die sind nicht unterzukriegen. Andere Themen »saufen« dagegen sofort ab wie der in den Teich geworfene Stein: plumps, weg isser. Diese Woche tauchte kurz die Abgeltungssteuer auf. Ein schrecklicher, abstrakter Begriff, mit dem sich offensichtlich niemand so richtig auseinander setzen mag. In einigen Medienmeldungen hieß es, Finanzminister Wolfgang Schäuble sei bereit, diese Steuer zu erhöhen, jedoch sei die CSU in Person von Finanzminister Markus Söder dagegen - weg war das Thema. Dabei illustriert diese Steuer wie keine andere, warum diese Republik auf dem Kopf steht. Wer Geld hat und wessen Tun aus Aktienhandel besteht, zahlt auf seine Gewinne sensationell niedrige 25 Prozent Abgeltungssteuer. Das lohnt sich richtig. Eingeführt wurde sie von Peer Steinbrück, SPD, der mit dem Argument vor den Geldsäcken kapitulierte: Damit die richtig Reichen nicht flüchten, senken wir eben die Steuern auf die Kapitalerlöse drastisch ab. Steinbrück ist übrigens Mitglied der SPD, die momentan zusammen mit der Union in Berlin regiert und die im Wahlkampf noch geschworen hatte, sie sei völlig anders als die frühere Schröder-SPD, sei sie doch die neue soziale Gabriel-SPD ... Wer dagegen kein Geld hat, deshalb arbeiten muss, zahlt viel höhere Steuern als die Aktienhändler und Dividenden-Einsacker. Und Sozialabgaben obendrauf. Also: Arbeitseinkommen werden hoch besteuert, Spekulation und Reichtum werden niedrig besteuert. Geldbesitzer werden belohnt, Arbeitsleistung wird dagegen bestraft. Ein Randthema.
An dieser Stelle kommt der ebenso famose wie hartnäckige Historiker Hans-Ulrich Wehler ins Spiel. Der angesehenste Sozialhistoriker dieses Landes hat vor gut einem Jahr versucht, mit seinem Buch »Die neue Umverteilung« auf die dramatische soziale Ungleichheit in Deutschland aufmerksam zu machen: Vermögen und Einkommen sind inzwischen extrem ungleich verteilt. Die Abstände werden täglich größer - unter anderem dank der oben erwähnten Abgeltungssteuer, die hilft, die Kluft ständig tiefer zu graben. Wer im vergangenen Bundestagswahlkampf - meist ungeschickt genug - versuchte, dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen, der wurde bestraft: Die Grünen verloren wegen ihrer Steuererhöhungsvorschläge einige Prozente, die SPD knickte ein und zog vergleichbare Forderungen drei Wochen vor der Wahl aus dem Verkehr, die Partei Die LINKE reüssierte damit nicht erkennbar. Mit anderen Worten: Je tiefer die soziale Kluft, desto furchtsamer die Parteien. An den Kern wagt sich keine heran. Der Kern wird von Wehler formuliert, etwa am 12. Mai im Feuilleton der »Süddeutschen Zeitung«: Von 2000 bis 2020 wurden und werden privatrechtlich 5,7 Billionen Euro vererbt, mehr als die Hälfte des deutschen Gesamtvermögens, das momentan etwa zehn Billionen Euro beträgt. Gäbe es in Deutschland, so Wehler, eine vernünftige Erbschaftssteuer wie in Frankreich, in Höhe von 50 Prozent, so hätte die Öffentlichkeit in diesem Zeitraum 2,9 Billionen Euro eingenommen - genug, um ihr Gemeinwesen in Ordnung zu bringen.
Politiker, Gewerkschafter, Unternehmer und Journalisten lärmen sich monatelang mit Zahlen zur Mütterrente, Mindestlohn und weiteren Kleinigkeiten zu. Wir lernen in dieser Woche: Die entscheidende Zahl, das entscheidende Thema nennt ein Historiker im Feuilleton.
Wolfgang Storz war bis 2006 Chefredakteur der »Frankfurter Rundschau« und arbeitet seither als Berater und Publizist.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.