Warum Berlin eine neue Landesbibliothek braucht
Die Autoren Ursula Müller-Schüssler und Peter Delin waren u.a. Sachpreisrichter der Amerika-Gedenk-Bibliothek beim Wettbewerb um den Erweiterungsbau 1988.
Wir treffen Esther Witt in der S-Bahn Richtung Wannsee. Sie verteilt die Zeitung »Feld« der Initiative 100 Prozent Tempelhofer Feld e.V. Wir wollen von ihr wissen, warum sie den Bau der Landesbibliothek verhindern will. Das ist doch eine Investition in die Bildung für alle und keine »Rendite für Wenige« wie die Zeitung »Feld« behauptet. Mit ihrem Widerstand gegen die Bebauung des Tempelhofer Feldes will sie die Gentrifizierung stoppen. Ihre Familie hat die Folgen selbst erlebt. Wir können unsere Sympathie für ihre Motive zwar nicht verhehlen, doch den Kampf der Initiative gegen die Landesbibliothek verstehen wir nicht.
Neben den 140 000 Studenten gibt es in Berlin 80 000 junge Leute, die eine Berufsausbildung im dualen System machen. Auch der angehende Fahrschullehrer, der Steinmetz, der das einzige Fachbuch zu diesem Handwerk sucht, der Meister, der die Ausbildereignungsverordnung studieren muss oder die 3-jährige Frau, die zu den vielen dringend gesuchten Einsteigern in den Erzieherberuf gehört: Sie alle benötigen Fachliteratur. Diese jedoch mühselig aus den Magazinen an verschiedenen Standorten beschafft werden muss.
Die Bibliothek braucht außerdem Tausende von neuen Arbeitsplätzen - davon auch einen für den jungen Mann, der sich mit seiner Freundin in einem Frage-und-Antwort-Spiel mit dem 500-Seitenwälzer »Testtraining Polizei und Feuerwehr« auf einen Eignungstest vorbereitet und damit seine Umgebung im Lesesaal zur Weißglut treibt. - Die Breite des Publikums, die Mischung der verschiedenen Schichten, Bildungsstandards und Altersgruppen machen den einzigartigen Charakter der ZLB aus.
Wenn man die ZLB mit ihrer Größe und ihrem Raumbedarf heute verstehen will, muss man in die Zeit nach dem Mauerfall zurückgehen. Damals ging es darum, die beiden Zentralbibliotheken von zwei Millionen-Städten neu zu organisieren. Das Besondere: Man hat sie nicht wie in Deutschland sonst üblich in eine öffentliche Zentralbibliothek und eine wissenschaftliche Landesbibliothek aufgeteilt, sondern die personellen und finanziellen Mittel einfach zu einer Bibliothek zusammengelegt. Mit diesem Coup begann eine unvergleichliche Erfolgsgeschichte. Mit 3,5 Millionen Medien, 3,7 Millionen Entleihungen und 1,2 Millionen Besuchern im Jahr ist die ZLB heute die bedeutendste öffentliche Bibliothek in Deutschland. Sie ist mit ihren Beständen das Rückgrat der öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken im Land Berlin.
Doch die ZLB, das ewige Provisorium, lebt immer noch wie aus dem Koffer, als wäre sie nur auf Durchreise, als wäre sie in dieser vereinigten Stadt noch nicht angekommen.
2007 erhält die Bibliothek von Klaus Wowereit (SPD) den Auftrag, ein Bedarfsprogramm für ein neues, gemeinsames Gebäude zu ermitteln. 2009 schlägt er für die ZLB einen neuen Standort am Rande des Tempelhofer Feldes vor. Das Ergebnis der umfassenden Vorarbeiten der ZLB ist ein Gebäude mit 51 000 qm, das in Deutschland einzigartig sein wird. Die größte öffentliche Universalbibliothek des Landes wird endlich ihre vielfältigen Bestände frei zugänglich und barrierefrei für alle präsentieren können. Das neue Gebäude sprengt auch die traditionelle Rolle der Bibliothek. Hier soll jeder vom Konsumenten zum Produzenten werden können. Sonst unerschwingliche Software-Programme können in Werkstätten frei genutzt werden. Zur Ausstattung gehören auch vielgefragte Räume zum Musizieren, Kinoräume zur Selbstbedienung für kleine Gruppen und vor allem ein großes Selbstlernzentrum für Sprachen. Das gibt es an Berliner Universitäten seit Jahrzehnten, allerdings nur für eingeschriebene Studenten.
Nach über 25 Jahren ist es an der Zeit, das Karussell der unverbindlichen Projekte, Diskussionen und Initiativen für eine neue Landesbibliothek endlich anzuhalten. Sonst wird den Berlinern auch in den nächsten Jahrzehnten das Bildungs- und Kulturangebot einer zeitgemäßen Metropolenbibliothek vorenthalten bleiben.
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