Wettbewerb um Frühgeborene

Warum ein Arzt auf Spezialversorgung für Kinder besteht und was er der Politik vorwirft

  • Lesedauer: 6 Min.
Prof. Michael Radke ist Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche am Ernst-von-Bergmann-Klinikum in Potsdam. Der 60-jährige, Kindergastroenterologe und Ernährungsspezialist. studierte in Rostock Medizin. Er äußert sich über die Frühchenversorgung in der DDR. Mit ihm sprach Silvia Ottow.

nd: In Europa werden jedes Jahr 500 000 Babys zu früh geboren, Tendenz steigend. Warum ist das so?
Radke: Die Frauen werden heute immer älter, bevor sie ihr erstes Kind bekommen, oft nach einer künstlichen Befruchtung. Das hat öfter Mehrlingsschwangerschaften zur Folge. Mehrlinge kommen meist einige Wochen zu früh. Außerdem ist die Schwangerenvorsorge nicht so effizient. In der DDR hatte man eine quasi »kapitalistisch« organisierte Vorsorge: Jede Frau erhielt bei jedem Vorsorgetermin einen Geldbetrag. Auf diese Weise erreichte man eine nahezu 100-prozentige Vorsorgeteilnahme. Das ist heute leider nicht mehr so. Es bleiben den Untersuchungen vor allem jene Frauen fern, die es am nötigsten hätten: Schwangere mit sozialen Problemen, alleinstehende Schwangere oder solche mit Adipositas oder Nikotinmissbrauch.

Ab wann spricht man von einem Frühgeborenen?
Alle Babys, die nach weniger als 38 Schwangerschaftswochen zur Welt kommen, sind Frühgeborene. Aber Probleme gibt es meistens erst unter der 32. Woche und große Probleme unter der 28. Woche. Problematisch sind wirklich die Kleinen unter 28 Wochen. Da zählt jeder Tag. Die Kinder überleben heute natürlich viel häufiger als früher.

Prof. Michael Radke

...ist Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche am Ernst-von-Bergmann-Klinikum in Potsdam. Der 60-jährige Kindergastroenterologe und Ernährungsspezialist wurde in Schwerin geboren und studierte in Rostock Medizin. Er engagiert sich in Fachgesellschaften und der Ärztekammer für die Besonderheiten der medizinischen Betreuung von Kindern und plädiert für die Frühchenversorgung in medizinischen Spezialzentren mit großer Erfahrung.

Als zwei Brandenburger Landtagsabgeordnete im vergangenen Jahr die Frühchenversorgung in der DDR herabwürdigten, sprach er von einem kläglichen Versuch der Diskreditierung von Ärzten, Hebammen und Krankenschwestern in der DDR.

Gibt es für die Versorgung in Deutschland bestimmte Standards?
Wir haben eine Hightech-Medizin und gute Ressourcen. Auf der anderen Seite haben wir - im Vergleich mit anderen europäischen Ländern - keine besonders gute Krankenhausstruktur. Sie ist gekennzeichnet durch ein Leistungsüberangebot mit der Folge eines gelegentlichen ruinösen Wettbewerbs von Kliniken um die Frühgeborenenversorgung. Deutschland hat doppelt so viele Spezialeinrichtungen für Frühgeborenenbetreuung (Level-1-Perinatalzentren) als andere europäische Länder, z. B. Frankreich, die Niederlande oder Schweden. Es hat aber keine besseren Ergebnisse.

Wie kommt das?
Viele Verantwortliche im deutschen Krankenhaussystem denken, dass man mit Frühgeborenen viel Geld verdienen kann. Für eine normale Geburt bekommt ein Haus eine sogenannte Fallpauschale von wenigen Tausend Euro. Für die Aufnahme und Behandlung eines extrem unreifen Frühgeborenen unter 750 Gramm Geburtsgewicht kann es der Krankenkasse etwa 110 000 Euro in Rechnung stellen.

Das braucht man wohl auch?
Genau. Im Schnitt liegt so ein Kind 90 Tage im Krankenhaus, davon die längste Zeit auf einer neonatologischen Intensivstation. Es sind die Personalkosten, die das so teuer machen. Man braucht für die Betreuung dieser schwer kranken kleinen Patienten hoch qualifiziertes ärztliches und pflegerisches Personal. Die speziell ausgebildeten neonatologischen Intensivschwestern sind unverzichtbar und werden rar. Alle Geschäftsführer von Krankenhäusern, die nur an die Erlöse denken, greifen zu kurz. Fünf ganz unreife Frühgeborene bringen zwar eine halbe Million Euro, dagegen müssen aber die Kosten gesetzt werden. Der Wettbewerb um diese Patientengruppe ruiniert am Ende die medizinische Behandlungsqualität, wenn es nicht gelingt, Mindeststandards sicherzustellen. Hierfür benötigt man aber weitaus mehr, als nur fünf von diesen kleinen Patienten pro Jahr.

Müssen nicht überall die gleichen Standards eingehalten werden?
Die Standards nennen wir Level. Sie beschreiben die Ausrüstung und die Personalkompetenz. Level 4 ist eine normale Geburtsklinik ohne Kinderklinik und Kinderarzt. Level 3 ist eine Geburtsklinik mit einer Kinderklinik, aber ohne Kompetenz für die Frühgeborenenbetreuung. Level 2 ist eine Geburtsklinik mit einer spezialisierten Kinderklinik, die Frühgeborene bis 28 Wochen und darüber betreuen darf. Und Level 1 stellt den höchsten Standard in Ausrüstung und Know-how dar. Hier am Klinikum in Potsdam haben wir einen Level-1-Standard. In Deutschland ist das Fachpersonal derzeit noch auf zu viele Krankenhäuser aufgeteilt, das birgt einige Gefahren in der Zukunft. Es gab daher in Fachkreisen viel Sympathie für eine Mindestmengenregelung zur Behandlung von Frühgeborenen. Wenn man etwas sehr oft macht, gibt es die Chance, es immer besser zu machen.

Der Versuch, sie einzuführen, ist im vergangenen Jahr gescheitert.
Immer, wenn Juristen und Politiker in die Medizin eingreifen, ohne sich mit Fachleuten zu verständigen, kann es daneben gehen. Der Gemeinsame Bundesausschuss aus Ärzten und Krankenkassen (GBA) wollte Mindestmengen einführen, scheiterte aber juristisch. Es gab Krankenhäuser, die gesagt haben: »Wir wollen uns diese Erlöse nicht entgehen lassen«. Sie haben dagegen geklagt. Das Verwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat die Mindestmengen für die Frühgeborenenbetreuung daher verworfen. Deswegen hat der GBA neue Qualitätskriterien erarbeitet, sie gelten ab 2017.

Die Ökonomie hat nur vorübergehend den Sieg davon getragen?
Nein das glaube ich nicht. Vor zehn Jahren waren wir Kinderkliniker noch ein bisschen außen vor. Für kranke Kinder galt besonderer Schutz. Heute ist auch die Kindermedizin durchökonomisiert. Patient ist Patient, egal wie alt er ist. Ich halte es für dringend angeraten, wenn der Kinder- und Jugendmedizin im Krankenhausfinanzierungssystem die Chance gegeben würde, sich weiter zu entwickeln, indem sie von diesem ökonomischen Druck verschont bliebe. Wir haben nur noch 650 000 Neugeborene pro Jahr und brauchten für die einfache Reproduktion der Bevölkerung die doppelte Geburtenzahl. Kinder sind uns sehr viel wert - aber dürfen sie uns auch etwas kosten?

Was raten Sie schwangeren Frauen mit dem Risiko einer Frühgeburt?
Sie sollten für sich beanspruchen, ihr Kind dort zu bekommen, wo ihnen selber, aber vor allem auch ihrem Kind, professionell und umfassend geholfen werden kann: in einem Perinatalzentrum mit dem Level 1.

Kann man einer Frühgeburt in irgendeiner Weise vorbeugen?
Ja und Nein. Hauptursache einer Frühgeburt sind aufsteigende Infektionen der Geburtswege. Die Schwangere sollte sich möglichst keinen Infektionsrisiken aussetzen, etwa in der Schwimmhalle oder in öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie sollte regelmäßig an der Schwangerenvorsorge teilnehmen, um Frühzeichen einer Störung der Schwangerschaft zu erkennen. Das wäre schon etwas.

Welches sind die Folgen einer frühen Geburt für die Kinder?
Je unreifer ein Kind ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es Probleme gibt. Ganz kleine Kinder mit weniger als 24 Schwangerschaftswochen haben ein Risiko von 50 Prozent, nicht zu überleben. Wir kriegen heute die meisten Babys durch, im vorigen Jahr verloren wir in unserem Klinikum kein einziges Kind. Aber es gibt natürlich auf Grund der Unreife der Organsysteme Risiken für Folgeschäden, z. B. unreifebedingte Hirnblutungen. Daraus ergeben sich oft neurologische Probleme im späteren Lebensalter. Die Störungen fangen bei Spastik (Zerebralparese) und motorischen Störungen an, reichen über Sehstörungen durch die Schädigung der Netzhaut infolge der Beatmung bis hin zu Darmkrankheiten. Auch die Lunge eines Frühgeborenen kann geschädigt werden, weil es maschinell beatmet werden muss. Hinzu kommen Ernährungsprobleme, wenn die Mutter keine Milch produzieren oder nicht stillen kann.

Wie war die Betreuung der Frühchen in der DDR?
Die Säuglingssterblichkeit war bis in die 80er Jahre hinein im Osten geringer als im Westteil des Landes. Erst zum Ende der 80er Jahre wurden die Erfolgsraten bei den ganz kleinen Frühgeborenen im Westen langsam besser, weil die Medizintechnik und Medikamente einfach besser wurden.

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