Aus der Zeit gefallen
Im Kino: »Sienawka« von Marcin Malaszczak
Filmanfängern wird gern geraten, Drehbücher zu schreiben und Filme zu drehen über Orte und Gegebenheiten, die sie aus eigener Anschauung kennen. Marcin Malaszczak, ein polnischer dffb-Absolvent, hat sich daran gehalten und als ersten Langfilm ein Werk verfasst, das zwar mit philosophischem Rahmenhandlungsschnickschnack aufwartet, vor allem aber in den Fluren, Küchen und Speisesälen einer Institution spielt, die Malaszszak aus der eigenen Familiengeschichte kennt: einem Krankenhaus zur Behandlung von Geistes- und Nervenkranken und von Alkoholikern.
Weil Tante und Großvater lange in oberen Verwaltungschargen an diesem Krankenhaus im polnischen Sienawka tätig waren, ließ der jetzige Direktor dem jungen Filmemacher offenbar weitgehend freie Hand beim Filmen der Insassen. Zu viel der Freiheit möglicherweise, denn ob diese Patienten noch in der Lage wären, ihr Persönlichkeitsrecht gegenüber einer Filmcrew zu behaupten, wenn es von ihrer Anstaltsleitung einmal weggegeben wurde, scheint mehr als fraglich. Das Ergebnis jedenfalls sind verstörende, wie aus der Zeit gefallene Aufnahmen von Insassen einer Station für geistig verwirrte Menschen, viele von ihnen sichtlich vom Alkoholkonsum gezeichnet, die unter Bedingungen leben und abgefüttert werden, die man eher dem 19. als dem 21. Jahrhundert zuordnen möchte.
Das Haus im deutsch-polnisch-tschechischen Grenzgebiet diente den Nazis einst als Arbeitslager - eine wiederholt zwischengeschnittene Sequenz der langsamen Anfahrt auf die Toreinfahrt zum Gelände weckt gezielt Assoziationen an andere Torbögen und menschenverachtende Slogans, verschafft dem Schreckfaktor einen doppelten Boden, eine weitere historische Resonanz. Der Braunkohletagebau, der die Landschaft drum herum vernarbte, gibt dem hoffnungslosen Treiben im Innern der Anlage einen ähnlich endzeitlich wirkenden äußeren Spiegel bei.
Schlechtgekleidete Figuren mit groben Gesichtszügen wie bei Bosch oder dem jüngeren Brueghel irren durch die Gänge der Anstalt, rauchen, reden, tanzen und werden mit Suppe aus Kübeln versorgt. Ein komischer Kosmonaut, ein Mann in Zwangsjacke, ein Obdachloser mit Zelt, ein wenig Hilfsbereitschaft und noch mehr Misstrauen treiben derweil in Rahmenhandlung und Umgebung ihre symbollastigen Spiele miteinander.
LPG-Ostalgie kommt vorübergehend auf, denn während das Anstaltsgelände heute zwischen Krankenhaus und Unterkünften für polnische Familien aufgeteilt ist, gab es einst eine eigene Produktionsgenossenschaft zur Versorgung der Anstalt. Und ein Kino. Alles weg, dem rücksichtlosen Kapitalismus anheimgefallen. Oder so ähnlich. Wer Grenzgebiete, zumal ein Dreiländereck wie dieses, als dynamische Gegenden blühenden Handels und kultureller Vielfalt kennt und schätzt, lernt mit »Sienawka« eine andere Variante kennen. Denn rückständiger, hoffnungsloser als der, an dem diese marginal per Spielfilmhandlung verfremdeten, aber doch recht dokumentarischen Aufnahmen gemacht wurden, lässt sich kaum ein Drehort vorstellen.
Nicht zufällig war »Sienawka« nach seiner Premiere im Forum der Berlinale 2013, das Mischformen von Spielfilm und Dokumentarischem traditionell pflegt (und den Film über seinen Verleiharm ins Kino bringt), im April auch auf der Dokumentarfilmwoche Hamburg zu sehen. Regisseur Marcin Malaszczak möchte seinen Film aber wohl eher als Studie über das menschliche Unterbewusste und die Flucht vor gesellschaftlicher Normierung gelesen wissen. Nun denn.
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