Gassenlauf zum Parlament in Kiew
Präsident Poroschenko führt »Gegenangriff« in der Ostukraine und verweigert bis zur Rückeroberung der Grenzregion einen Waffenstillstand
Zur höchsten ukrainischen Volksvertretung kamen Abgeordnete und Gäste am Dienstag nach Art des Gassenlaufs. Ein Spalier von »Selbstverteidigungs-« und sonstigen Kräften des Maidan zwang auf einen »Weg der Schande«. Tritt für Tritt führte der über die Porträts von Volksvertretern aus den Parteien der Regionen und der Kommunisten zum Parlamentseingang. Nicht nur eine »Lustration« soll die von der Macht vertriebenen Abgeordneten endgültig hinaussäubern, wie rund 1500 Demonstranten forderten. Der Ruf nach vorgezogenen Parlamentswahlen wird lauter.
Die Partei Udar beantragte die Selbstauflösung der Rada. Ein solches Vorgehen ist allerdings in der Verfassung nicht vorgesehen. Zudem gibt es offenbar größere Differenzen über das künftige Wahlrecht. Darüber wird weiter zu debattieren sein - wie über die Einführung des Ausnahme- oder Kriegszustands im Osten des Landes. Eine Explosion der Gasleitung Urengoi-Ushgorod im zentralukrainischen Poltawa meldete UNIAN. Die Ursache blieb bis zum Abend ungeklärt, beunruhigte entscheidenden Gremien aber sicher zusätzlich.
Im Donbass läuft der vom Präsidenten verkündete »Gegenangriff«. Nach offiziellen Verlautbarungen war gegen Mittag der Bezirk Swerdlow im Gebiet Lugansk »von Terroristen gesäubert«. In den Grenzregionen wurde gekämpft, »um die Sicherung der Staatsgrenze wieder herzustellen und Terroristen zu vernichten«, berichtete Espresso-TV aus dem Hauptquartier der Grenztruppen. Die »Vernichtung von 80 Terroristen in den östlichen Gebieten der Ukraine« vermeldete der Sicherheitsrat am Nachmittag als Bilanz der letzten 24 Stunden.
Die Nachrichten passten in die Linie, die Präsident Petro Poroschenko nach einer Sitzung des Sicherheits- und Verteidigungsrates am Vorabend vorgegeben hatte. Erst sei die Grenzregion zurückzuerobern, bevor es zu Waffenstillstand und Verhandlungen kommen könne. Dafür wird inzwischen mit fünf bis sieben Tagen etwa eine weitere Woche veranschlagt. Die mehrfach angekündigte Waffenruhe und die Umsetzung eines Friedensplans bleiben damit weiter aus.
Der Erste Vizepremier Vitali Jarema fasste das weitere Vorgehen gegen die prorussischen Milizen in die Losung: »Nach Russland oder Tod«. Kämpfer, die sich keiner Verbrechen schuldig gemacht hätten, dürften die Ukraine durch Korridore Richtung Russland verlassen. Wenn nicht, würden sie »vernichtet«, erklärte Jarema laut Internetzeitung Gazeta. Ein erster Schritt des Friedensplans soll nun die Ernennung der Vertreterin der Vitali-Klitschko-Partei Udar und gelernten Journalistin Irina Geraschtschenko zur Sonderbeauftragten für die Krisenregionen sein. Allein mit einer Gesandten Kiews wollen die Vertreter der abtrünnigen Region aber auch nicht sprechen.
Angesichts der ukrainischen Offensive werden wohl wieder mehr russische Truppen in Grenznähe in Stellung gebracht. Unter Berufung auf eine »Quelle« räumte dies die russische Agentur RIA/Nowosti ein. Nach deren Angaben soll es sich um mehrere Luftlandebataillone und mehrere motorisierte Schützenbrigaden handeln. Um Grenzverletzungen vorzubeugen, könne das Truppenkontingent zusätzlich verstärkt werden.
Die Lage im Osten der Ukraine hat sich nach Einschätzung der Vereinten Nationen verschlechtert, sei aber noch nicht als humanitäre Krise zu bewerten. Allerdings könne es dazu kommen, sollte keine politische Lösung für den Konflikt gefunden werden, warnte die UN-Nothilfekoordinatorin Valerie Amos nach Angaben westlicher Diplomaten am Montag bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats in New York. Der russische UN-Botschafter Vitali Tschurkin, der im Juni den Vorsitz des Gremiums innehat, sagte vor Journalisten, die Situation in der Ostukraine verschlimmere sich »ständig«. Als kritisch gilt vor allem die Unterbrechung der Wasserversorgung.
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