Contergan-Opfer scheitert vor dem Kadi
Bundesverwaltungsgericht kann keinen Verfassungsverstoß bei der Versorgungsregelung erkennen
Nachdem Schwangere Ende der 1950er Jahre das Schlafmittel Contergan verwendet hatten, kamen rund 10 000 Kinder mit schwersten Missbildungen auf die Welt. 1961 wurde das Medikament, das die Firma Grünenthal hergestellt hatte, vom Markt genommen. In den 1970er Jahren schlossen betroffene Eltern und Kinder in der Bundesrepublik mit der Pharmafirma einen Vergleich, in dem sie alle Ansprüche an eine Stiftung abtreten, in die Gelder von Grünenthal und Steuermittel flossen. Rund 2800 Geschädigte werden von der Stiftung betreut und erhalten Renten und Einmalzahlungen.
»Das gesetzliche Leistungssystem verstößt nicht gegen das Grundgesetz«, urteilte am Donnerstag der zehnte Senat des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig: »Bei derartigen Leistungen, die nicht strikt bedarfsorientiert der Sicherung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum dienen, kommt dem Gesetzgeber ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.« Axel Kormann aus Krefeld, 53 Jahre alt und mit Schäden an allen Gliedmaßen und inneren Organen zur Welt gekommen, hatte mehrere Verstöße gegen das Grundgesetz bei den Leistungen der Stiftung gesehen.
Zusammen mit seiner 82-jährigen Mutter, die wie er Anwältin ist und ihn auch vor dem Bundesverwaltungsgericht vertrat, hatte er gegen einen Bescheid der Stiftung von November 2010 geklagt. Die Stiftung hatte sein Ansinnen auf höhere Rentenzahlungen abgelehnt. Den Verstoß gegen das Grundgesetz hatte Kormann darin vermutet, dass die Stiftung die Rentenbezüge zu wenig nach der Schwere der Missbildung differenziert habe. Die Notwendigkeit einer Differenzierung hätte dem Familienministerium, das die Stiftung beaufsichtigt, jedoch spätestens seit 2004 bekannt sein müssen. Damals war eine Dokumentation im Auftrag des Ministeriums und der Stiftung über die Situation der von Contergan betroffenen Menschen in der Bundesrepublik entstanden.
Allerdings hatte Kormann wie schon 2013 vor dem Verwaltungsgericht Köln auch vor dem Bundesverwaltungsgericht keinen Erfolg. »Für einen Verfassungsverstoß durch unterlassene Nachbesserung eines Gesetzes muss evident sein, dass eine ursprünglich rechtmäßige Regelung wegen zwischenzeitlicher Änderung der Verhältnisse verfassungsrechtlich untragbar geworden ist«, führte der Vorsitzende Richter Uwe-Dietmar Berlit an. »Dies lässt sich vorliegend nicht feststellen.«
Der Gesetzgeber habe auf Hinweise, es komme zu einer spürbaren Unterversorgung durch Contergan Geschädigter, im Jahre 2008 mit einer Verdoppelung der Renten und der Einführung einer jährlichen Sonderzahlung im Jahre 2009 reagiert. Damals wurde die Höchstrente von 545 auf 1090 Euro erhöht.
Berlit verwies außerdem darauf, dass sich dem Ministerium eine sozialstaatswidrige Unterversorgung von durch Contergan Geschädigten auch nicht spätestens seit 2004 derart habe aufdrängen müssen, dass es die Leistungen hätte erhöhen müssen. Der Vorsitzende Richter vertrat die Einschätzung, dass die deutliche Leistungserhöhung im Januar 2013 »zur Verbesserung der Situation der betroffenen Menschen erfolgt ist und nicht der Beseitigung eines Verfassungsverstoßes gedient hat«.
Das hatte Kormann in der mündlichen Verhandlung anders gesehen und es als Schuldeingeständnis der Stiftung und des Ministeriums bewertet: 2013 waren die Renten zum Teil um 500 Prozent gestiegen.
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