Realitätsverweigerung bei Ökonomen
Hans-Böckler-Stiftung stellte Studie zu Effekten des Mindestlohns vor
Würden deutsche Ökonomen auf einem US-Ökonomen-Kongress erzählen, was sie hier erzählen, »würden sie ausgelacht«. Eine deutliche Aussage von Gerhard Bosch vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen. Regelmäßig beklagen Wirtschaftsinstitute, UnionspolitikerInnen und Wirtschaftsspitzen, durch die Einführung des Mindestlohns würden hunderttausende Jobs verloren gehen. Bosch dagegen sprach am Montag »fast schon von einer Realitätsverweigerung vieler Ökonomen«.
Im Auftrag der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung erstellten Claudia Weinkopf und Gerhard Bosch ein Papier zum aktuellen Stand der Mindestlohnforschung. Sie verglichen Wirtschaftstheorien und vor allem empirische Untersuchungen der letzten zwei Jahrzehnte. Besonders seit Anfang der 1990er Jahre sei die Zahl der Untersuchungen zur Auswirkung von Mindestlöhnen auf die Beschäftigung »drastisch« gestiegen. Grund dafür sei eine steigende Lohnungleichheit der Einkommen in den OECD-Staaten sowie das Interesse an den Auswirkungen staatlicher Eingriffe in die Lohnpolitik.
Mindestlöhne können die Motivation der Beschäftigten steigern, zu mehr Produktivität und Effizienz im Unternehmen führen. Die Erhöhung der Löhne könne überdies »erhebliche Nachfrageeffekte« haben, was wiederum zu mehr Beschäftigung führe. Mit Blick auf den deutschen Kontext stellen Weinkopf und Bosch fest, dass durch die seit Jahren existierenden Branchenmindestlöhne, die teilweise deutlich über 8,50 Euro liegen, keine Jobs »vernichtet« worden seien. Es sei dagegen schwerer geworden, Geschäftsmodelle auszubauen, die auf Lohndumping basierten. Beispielsweise mussten im Dachdeckerhandwerk Betriebe nach der Einführung des Branchenmindestlohns schließen, die Beschäftigten seien aber in anderen Betrieben untergekommen, so Bosch.
Die Befunde insbesondere der in den letzten 20 Jahren in USA und Großbritannien immer weiter verbesserten Instrumente der empirischen Mindestlohnforschung seien klar. Effekte von Mindestlöhnen auf Beschäftigung sind gering, es kann indes zu leichten Preissteigerungen kommen. Modellrechnungen, wie die deutscher Wirtschaftsforschungsinstitute, unterstellen Effekte, »die von der empirischen Mindestlohnforschung nicht bestätigt werden«, schreiben Weinkopf und Bosch.
In Deutschland wurde die Forderung nach dem gesetzlichen Mindestlohn in den 1990er Jahren laut. Doch bis sich die ablehnende Haltung von PolitikerInnen und Wissenschaft änderte, hat es sehr lange gedauert. Das hänge »zweifellos auch damit zusammen, dass eine große Mehrheit der deutschen ÖkonomInnen wie auch der Sachverständigenrat einen gesetzlichen Mindestlohn für ›Teufelszeug‹ halten«. Aktuelle Forschungsstände würden bis heute nicht zur Kenntnis genommen. »Das finde ich erschreckend«, sagte Bosch. Der Professor für Wirtschafts- und Arbeitssoziologie hat indes auch eine Ahnung, warum das so ist: »Es geht um Geld.« Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes inklusive Steuern bedeute insgesamt eine um 20 Milliarden Euro höhere Lohnsumme. Rund 6,6 Millionen Menschen verdienen laut Bosch weniger als 8,50 Euro in der Stunde. Im Westen fast jede und jeder fünfte, in Ostdeutschland nahezu jeder und jede dritte Beschäftigte. Besonders im unteren Bereich würden die Löhne deshalb zunächst stark steigen müssen. Bosch spricht von Nachholeffekten, weil die Beschäftigten im Niedriglohnbereich so lange von der allgemeinen Lohnentwicklung abgekoppelt gewesen seien.
Minijobs seien der »schwierigste Bereich«, in dem der Mindestlohn umgesetzt werden soll, sagte Claudia Weinkopf. Dort würden nicht nur die Stundenlöhne unter 8,50 Euro liegen, auch würden oft Arbeitnehmerrechte verletzt. »Würden sich die Arbeitgeber legal verhalten, würden Minijobs schon heute unattraktiver sein als das Schaffen von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen«, so die Wissenschaftlerin.
Ausnahmen vom Mindestlohn lehnt sie ab. Diese würden die Effektivität des Mindestlohnes schwächen, die Kontrollen erschweren, heißt es in der Studie. Zu Ausnahmen beispielsweise für SaisonarbeiterInnen in der Landwirtschaft, wie sie in den letzten Wochen Unionspolitiker forderten, sagte Weinkopf gegenüber »nd«: »In anderen EU-Staaten gibt es in dem Bereich keine Ausnahmen, darum haben sie auch eher die osteuropäischen Arbeitskräfte angezogen.« Alle Jahre wieder klagen hiesige Spargelbauern, dass sie zu wenige Erntehelfer finden.
In Kreisen der Mindestlohnbefürworter wurde die neue Untersuchung begrüßt. »Der vielbeschworene ›Untergang des Abendlandes‹ bei der Einführung des Mindestlohnes ist nicht mehr als gepflegte Folklore des Wirtschaftsflügels der Unionsparteien und der Arbeitgeberverbände«, sagte Klaus Ernst, Fraktionsvize der Linkspartei. Die Sprecherin für Arbeitnehmerrechte der Grünen, Beate Müller-Gemmecke, sagte auf nd-Anfrage: »Es darf nicht der gleiche Fehler gemacht werden wie beispielsweise bei den Minijobs. Bis heute werden die Minijobs nicht ausreichend kontrolliert.« Sie erneuerte die Forderung nach der Aufstockung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, um die Einhaltung des Mindestlohnes zu gewährleisten.
»Die Ergebnisse der Studie decken sich mit unserer Einschätzung, dass der Mindestlohn von 8,50 Euro keine negativen Auswirkungen auf die Beschäftigung haben wird«, hieß es aus dem Bundesarbeitsministerium. Ansonsten verwies der Sprecher auf den parlamentarischen Prozess. Am 4. Juli soll das Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie verabschiedet werden.
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