Zehn Minuten Masochismus
Als jemand, der schon einmal die Kundenbefragungen der Deutschen Bahn erlebt hat, hätte ich eigentlich gewarnt sein müssen. Auch der graumelierte Interviewer, der mich einst in einem Nahverkehrszug nach meinen Erfahrungen mit der Hochrheinbahn fragte, hatte schließlich versprochen, dass das Ganze nur zehn Minuten dauern würde – 38 Minuten später, in Basel, waren wir immer noch nicht fertig.
Doch die freundliche Frau, die mich nun im Auftrag irgendeiner brasilianischen Regierungsbehörde im Medienzentrum von Brasilia nach meinen Erfahrungen mit der WM befragen wollte, betonte sehr eindringlich, wie wichtig die Erkenntnisse für ihr Land seien. Man hätte schon ein verdammter Unhold sein müssen, um sie – etwa mit Verweis auf das spannende Spiel der Niederländer auf dem Flachbildschirm im Hintergrund – abzuweisen.
Der Fragebogen war dann auch aufschlussreich – wohl weniger für die Interviewerin als für mich, denn eine Regierung, die solche Fragen stellt, hat entweder ein tatsächliches Interesse daran, sich zu reflektieren (aber wäre sie dann eine richtige Regierung?), oder hat zu viele ausländische Presseberichte gelesen und zweifelt nun selbst an den Dingen, die nicht mal die miesepetrigsten deutschen Journalisten kritisieren können. Und die kritisieren bekanntlich alles – außer Franz Beckenbauer vielleicht.
Los ging`s also: »Infrastruktur?« In den Favelas deutlich anders als im schmucken Zentrum. »Erklärungen in Ihrer Sprache?« Nun ja, eine kleine Stadionführung auf badisch hätte ich schon schön gefunden. »Qualität der Hotels«? Habe in drei Tagen Frühstücksbuffet mehr Obst gegessen als im Rest dieses Jahrhunderts zusammengenommen. Öffentlicher Nahverkehr? So unpünktlich wie in Berlin, dafür sind die Fahrer weniger verhaltensauffällig.
So redeten wir ein Weilchen, mein Gegenüber schien jedesmal aufrichtig dankbar, dass ich nur selten die große Peitsche rausholte. Ein letzter banger Blick: Ob ich mich denn durch die Demonstrationen gegen die FIFA nicht abgeschreckt fühle von ihrem Land? Mein schallendes Lachen schreckte den halben Presseraum auf – und einen Kollegen aus Kanada, der der Frau wortreich erklärte, dass auch in seinem Land viel Verständnis für die Proteste herrsche. Brasilien hat Milliarden investiert, die FIFA verdient Milliarden, so läuft das Geschäft bei einem Turnier, bei dem die unentgeltlich arbeitenden Volunteers auch noch für ihre Getränke bezahlen müssen.
Wie dem auch sei: Die Tore vom Niederlande-Spiel habe ich dennoch live gesehen. Und die graumelierten Herren der Bahn hätten auch etwas lernen können: Die Befragung dauerte tatsächlich nur zehn Minuten.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.