Wenn nicht hier, wo dann?
Die Brasilianer, so liest man in Deutschland dieser Tage, seien ausgesprochen schlecht auf ihre Nationalmannschaft zu sprechen. Von der sprichwörtlichen Fußballbegeisterung keine Spur, auch wenn der nett anzusehende Sieg gegen die Kameruner und der Elfmeter-Thriller gegen Chile das Land doch ein wenig mit seiner Seleção versöhnt habe.
Wer derzeit als Deutscher in Brasilien ist, kann sich über diese Berichte nur wundern: Stolpert man an einem spielfreien Freitag aus dem Hotel, ist der Portier so ziemlich der einzige, der einem in seriösem Businessdress oder in zivil begegnet. Hingegen der Zeitungsverkäufer, die Frau am Kiosk, die Kids auf dem Skateboard, die Jogger und 80 Prozent aller Passanten: Im gelben Brasilien-Trikot. Kaum ein Auto, das ohne Landesfahne durch die Gegend fährt, kaum ein Lebensmittelladen, der nicht opulent ausgeflaggt wäre und definitiv nicht eine einzige Zeitung am Kiosk, die ohne Neymar- oder Scolari auf dem Titelblatt auskäme.
Von der Stimmung an Spieltagen ganz zu schweigen. Man spricht gerne von »ohrenbetäubendem« Lärm, wenn es mal etwas lauter zugeht. Nach einem Tor für die Seleção weiß man allerdings erst, was das Wort bedeutet: Wer sich auf der Pressetribüne unterm Tribünendach nicht die Ohren zuhält, hat danach zwei Trommelfelle weniger. Kurzum: Wenn das, was sich derzeit in Brasilien abspielt, keine echte Fußballbegeisterung sondern Tristesse ist, dann ist das eine, von der 15 von 18 deutschen Bundesliga-Managern träumen würden, wenn sie an den Alltag in ihren Stadien denken. Und was noch viel besser ist: Die Brasilianer feiern ihre Mannschaft, ohne den Gegner herabzuwürdigen. Wer sich als Nicht-Brasilianer zu erkennen gibt, erntet ein Lachen, einen freundlichen Händedruck, wird auf ein Getränk eingeladen oder gefragt, ob man denn mit irgendeiner Auskunft aushelfen könne. Egal, ob man nun aus Costa Rica, Russland oder Deutschland kommt. Trainer Luis Felipe Scolari, das versichern die Brasilianer, sei im Übrigen ein guter Mann. Selbst wenn man nicht Weltmeister werde – er möge bitte bleiben.
Von dieser Gelassenheit können Männer wie Kwesi Appiah oder Volker Finke nur träumen. Als nach den Niederlagen gegen Brasilien und Portugal feststand, dass sie mit ihren Mannschaften ausgeschieden waren, brach schon auf der Pressekonferenz eine Empörung über sie herein, die europäische Journalisten erstaunlich finden müssen. Ob er denn nicht finde, dass er nach diesem »Versagen« zurücktreten müsse, wurde der ehemalige SC-Coach gefragt, Appiah musste sichtbar schlucken, als ihn ein Journalist mit vor Wut zitternder Stimme fragte, warum er nicht einmal die Charakterstärke habe, nach dem Vorrundenaus das Weite zu suchen: »Wie wollen Sie das dem ghanaischen Volk erklären?«
Ob man dem ghanaischen Volk überhaupt etwas erklären muss, sei einmal dahingestellt. Den ghanaischen Journalisten sollte man hingegen das Gleiche erklären wie einem 3-Jährigen, der nach einem Gegentor weinend den Platz verlässt. Dass es kein Problem ist, wenn man den Fußball wichtiger nimmt als er es verdient hätte. Dass er aber keine Tränen rechtfertigt. Und keinen Hexenjagden.
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