- Wissen
- Dokumentation
Krisenerfahrungen und die Linke
Der Streitpunkt der Auseinandersetzung ist markiert: Neoliberalismus oder linkssozialistisches Gesellschaftsprojekt?
Alle europäischen Gesellschaften sind infolge der beschleunigten Modernisierung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts sozialen Spannungen ausgesetzt. Der moderne Kapitalismus entwickelt sich in Richtung einer kundenzentrierten, flexiblen Massenproduktion mit entsprechender Arbeitsorganisation. Durch die flexible Produktion werden die unter dem fordistischen Fabrikregime erkämpften Rahmenbedingungen der Lohnarbeit und die darauf aufbauenden Aspekte sozialer Sicherheit nach und nach zerstört. Eine flexible Produktionsweise erzwingt flexible Arbeitsmärkte und ist mit dem überlieferten System sozialer Sicherheit nicht vereinbar.
Der neue Produktions- und Akkumulationsmodus verändert nicht nur die Konsumtionsbedingungen der Arbeitskraft, sondern erzwingt auch veränderte Verteilungsverhältnisse. Die Ausrichtung am Shareholder Value und die dahinter steckende Begünstigung der leistungslosen Kapital- und Vermögenseinkommen schlagen sich in einer gesamtgesellschaftlich fallenden Quote des Arbeitseinkommens nieder. Die weitreichendste Folge des neuen Produktionsmodells ist die Herausbildung einer gespaltenen Ökonomie - der Sektor von tariflich geregelten Normalarbeitsverhältnissen wird mehr und mehr unter Druck gesetzt durch den Bereich der ungeschützten, marginalisierten Arbeit, letztlich den Erwerbsverhältnissen in dem anwachsenden Sektor der informellen Ökonomie.
Joachim Bischoff, geboren 1944, ist Ökonom und Publizist, Mitherausgeber der Zeitschrift »Sozialismus«. Er gehörte zu den Mitgründern der Wahlalternative 2006 und war in Hamburg für die Linkspartei Mitglied der Bürgerschaft.
Sein hier gekürzt dokumentierter Text über linke Sammlungspolitik als richtige Antwort auf die Verheerungen des Finanzmarktkapitalismus ist in dem von Alexander Fischer und Katja Zimmermann herausgegebenen Heft »Strategie einer Mosaik-Linken. Von WASG und PDS zu DIE LINKE. und neuen Herausforderungen« als Supplement der Zeitschrift »Sozialismus« erschienen (Heft 7-8, 2014, 56 Seiten, 5 Euro). Darin finden sich darüber hinaus Texte von Klaus Ernst und Thomas Händel, Katja Kipping sowie Bernd Riexinger. Mehr Infos und Bestellmöglichkeit: www.sozialismus.de
»Wir haben es mit einer Destabilisierung der Lohnarbeitsgesellschaft zu tun, die wie eine Druckwelle vom Zentrum ausgehend die ganze Gesellschaft erfasst, mit unterschiedlichen Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen.« (Robert Castel) Der finanzmarktgetriebene Kapitalismus produziert eine spezifische Ausbildung der Klassenverhältnisse.
Der harte Streitpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist damit markiert: Während die neokonservative oder neoliberale Gesellschaftspolitik auf Lohnzurückhaltung, sozialen Druck durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse und einen Rückbau sozialer Transfers und Dienstleistungen zielt, wird in dem Gesellschaftsprojekt des modernen Linkssozialismus eine solche Konzeption als letztlich undemokratisch, uneffektiv und neue Anpassungszwänge der Wirtschaft produzierend abgelehnt. Angestrebt wird stattdessen ein »neuer Gesellschaftsvertrag«, der - bei deutlichen Korrekturen der Verteilungsverhältnisse - auf einer Kombination von Innovation, demokratischer Beteiligung und sozialer Gerechtigkeit basiert.
Freilich sind die wenigen, erst in Ansätzen sichtbar werdenden Schritte in Richtung auf eine tiefgreifende Gesellschaftsreform für große Teile der Lohnabhängigen und marginalisierten Bevölkerungsschichten nicht überzeugend - ein Mangel, der durch massive Defizite in der politischen Kommunikation verstärkt wird. Insofern sehen wir in vielen Ländern Europas nach Jahren der Krise einen massiven Anstieg von rechtspopulistischen, fremdenfeindlichen Ressentiments und eine wachsende Delegitimierung der politischen Systeme.
Die fortschreitende Rückbindung von Lohnarbeit an ein flexibles Produktions- und Akkumulationsmodell erzeugt eine Reihe von Desintegrationserfahrungen. Diese Desintegrationserfahrungen schlagen sich u.a. individuell-biografisch in einem Anerkennungszerfall, in der Furcht vor einem sozialen Abstieg und in Zukunftsängsten nieder.
Entscheidend ist in diesem Zusammenhang: Auch wenn der gesellschaftliche Wandel in der Regel nicht verstanden wird, so wirkt doch der Veränderungsprozess nicht an sich bedrohlich, sondern die Tatsache, dass die Dynamik und Richtung dieses Prozesses offenkundig nicht reguliert und gesteuert werden können. Zugespitzt kann man sagen, dass wir mit verschränkten Krisenerfahrungen auf drei Ebenen konfrontiert sind.
Erstens: Die betrieblichen Erfahrungen von Leistungsdruck, Konkurrenz und Zukunftsängsten konstituieren heute das Alltagsbewusstsein vieler Lohnabhängiger. Ihre Verarbeitung und Deutung ist geprägt von Ohnmachtsgefühlen. Viele Strukturen des modernen Kapitalismus werden häufig nur personalisierend interpretiert. Die Regel bei der Deutung der Entwicklungen und Strukturbrüche sind Ausflüchte, Wunschprojektionen, Klischees und Stereotype.
Zweitens: Der Leistungsdruck, die unübersehbare Entsolidarisierung und die Ohnmachtsgefühle gegenüber dem Wandel der gesellschaftlichen Machtverhältnisse schlagen sich in der Regel in der Vorstellung einer als ungerecht empfundenen Verteilung von Lasten und Vergünstigungen nieder. Selbst die oberen Schichten der Lohnabhängigen teilen den Eindruck einer fortbestehenden Gerechtigkeitslücke. Der ökonomisch vermittelte Leistungsdruck und die weitgehend als undurchsichtig empfundene Umverteilungsstruktur des gesellschaftlichen Reichtums auf überbetrieblicher Ebene bildet das Unterfutter für ein soziales Klima, in dem soziale Beziehungen und Konflikte in ethnische und kulturelle umgedeutet und dadurch mit Vorurteilen aufgeladen werden.
Drittens: Es dominiert die Vorstellung, dass die Lohnabhängigen in der politischen Arena ohne die früher übliche Repräsentanz sind. Die Politiker erfüllten heute nicht einmal mehr die Funktion der Reparaturen im bestehenden politischen System. Politik werde mehr denn je auf dem Rücken der kleinen Leute ausgetragen.
Der neoliberale Politikansatz zur Dynamisierung der Kapitalakkumulation und der Reduktion der Massenarbeitslosigkeit ist gescheitert, dies ist die Erfahrung der letzten Jahre. Die praktisch wie theoretisch belegte Erfolglosigkeit der »neoliberalen Wirtschaftskonzeption« und der daraus resultierenden Austeritätspolitik hindern die herrschenden Kräfte und ihre ideologischen Repräsentanten nicht daran, weiterhin beständig eine Radikalisierung dieser Therapie zu propagieren und auch durchzusetzen. Als Akkumulationsbremse wird nicht die chronische Überakkumulation von Kapital mit einer massiven Verzerrung der Verteilungsverhältnisse zugunsten der Kapital- und Vermögenseinkommen ausgemacht, sondern die vermeintlich überzogenen Ansprüche der Lohnabhängigen und der subalternen sozialen Schichten.
Insofern wird die Politik der Vertiefung von sozialer Spaltung fortgeführt und - bleiben wir auf unserem Kontinent - auf ganz Europa ausgeweitet, mit der Folge, dass ganz im Unterschied zur propagierten Gesundungsprognose eine chronische Stagnation droht. Sie ist verbunden mit dem Verfall politischer Willensbildungsstrukturen und einer Unterminierung der politischen Institutionen, die die Durchsetzung eines Politikwechsels immer schwieriger macht. Die neoliberale Austeritätspolitik stützt sich ökonomisch auf eine Verlängerung der expansiven Notenbankpolitik und politisch auf eine Entkoppelung von Kapitalismus und Demokratie. Die extremen Niedrigzinsen und die Ausweitung der Kreditversorgung, die wir derzeit allerorten sehen, sind jedoch mit wachsenden Risiken verbunden.
Weltweit sind die Schulden von Staaten und Privaten stärker gestiegen als die Wirtschaftsleistung. Die aufgelaufenen Verbindlichkeiten sind inzwischen so enorm, dass der laufende Versuch, die Schuldenkrise mit neuen Krediten zu bekämpfen, als surreal erscheint. Alle Versuche, der negativen Folgen eines auf Kredit erzeugten Booms Herr zu werden, sind wenig überzeugend. Die Geldpolitik verliert im Umfeld der chronischen Überschuldung ihre Wirksamkeit und führt zu einer weiteren Verlängerung der Stagnation. Politisch geraten die Staaten unter einen wachsenden Druck rechtspopulistischer Bewegungen, die letztlich auf eine Re-Nationalisierung der Politik zielen. Deren Antwort auf fallende und zerfallende Staaten soll eine Rückbesinnung auf den Nationalstaat sein.
Europa steckt in einer Stagnationsfalle, wie wir sie seit Jahren in Japan sehen: marginales Wirtschaftswachstum, tiefe Zinsen, ständig steigende Schulden und die wachsende Furcht vor der Alternative zwischen Besteuerung der Vermögensbestände oder naturwüchsiger Schuldenrestrukturierung - sprich: dem Bankrott. Ein Ausweg aus dieser fatalen Entwicklung kann nur eine durchgreifende Antikrisenpolitik sein.
Bei deren Ausarbeitung geht es nicht nur um Elemente einer Alternative zur gescheiterten neoliberalen Austeritätspolitik, sondern letztlich auch darum, den Zerstörungsprozess der Demokratie umzukehren. Die politischen Systeme in Europa erodieren zunehmend, die Auffächerung der Parteien und eine Tendenz zur Machtübertragung an vermeintlich neutrale Technokratenregierungen sind nicht zu übersehen. Gesellschaftspolitisch angeleitete Gestaltung wird mehr und mehr durch bloß technokratische Verwaltung des Gegebenen ersetzt, der mutwillige Verzicht auf jede Erklärung der eigenen Handlungsweise wird als »alternativlos« dargestellt. Die früheren »Volksparteien« verlieren nicht mehr nur an ihren Rändern nach rechts und links - ihre Fundamente lösen sich auf. Je prekärer die Lebensverhältnisse, desto weniger Menschen gehen wählen, dahinter verbirgt sich eine soziale Spaltung der Wählerschaft. Auch Deutschland ist zu einer sozial gespaltenen Demokratie geworden, zu einer immer exklusiveren Veranstaltung für Menschen aus den mittleren und oberen Sozialmilieus der Gesellschaft, während die sozial prekären Milieus deutlich unterrepräsentiert bleiben. (...)
Aus dieser Einschätzung ergeben sich zwei zentrale Probleme auch für die deutsche Linke. Erstens: Ökonomisch produziert der Finanzmarktkapitalismus - erst recht bei seiner Krisenbewältigung durch Austerität - systembedingt Prekarität und damit vielfältige Formen sozialer Exklusion, die nur noch wenig mit früheren Formen konjunkturell bedingter Arbeitslosigkeit oder »industrieller Reservearmee« zu tun haben. Dies wiederum belastet dauerhaft durch Abgaben und Umverteilung die ebenfalls unter Druck geratenen Einkommens- und Vermögenspositionen der gesellschaftlichen »Mitte«, um deren Stabilisierung sich derzeit sowohl SPD wie Grüne vorrangig bemühen. Dies wirft ein krasses Licht auf das zweite Problem.
Zweitens: Die ökonomisch bedingte Exklusion produziert eine Erosion politischer Willensbildung und Repräsentation und führt trotz gelegentlicher Schwankungen zu einem hohen und sozial verfestigten Nichtwählerniveau gerade bei Menschen in prekären Lebensverhältnissen, vornehmlich in Quartieren mit überwiegend sozial benachteiligter Wohnbevölkerung. Hinter der zunehmenden Ungleichheit der Wahlbeteiligung verbirgt sich eine soziale Spaltung der Wählerschaft.
Die Lösung beider Probleme erfordert einen Ausbruch aus der Abwärtsdynamik und unterstellt einen Politikwechsel zu einem »New Deal« in Deutschland und Europa als konkretem Alternativkonzept. Dieser ist der Beginn eines längeren Umgestaltungsprozesses, der an die »realkapitalistischen Rahmenbedingungen« anknüpft und Aktivitäten in der Realwirtschaft denen im Finanzsektor gegenüber besserstellt. Gleichzeitig konzentriert sich die Gesamtstrategie auf jene Aufgaben, die im neoliberalen Zeitalter systematisch vernachlässigt wurden. Ihre Bewältigung würde die reale Wertschöpfung enorm steigern und gleichzeitig die Bedingungen für ein »gutes Leben« nachhaltig verbessern.
Mitten in einer schweren Krise muss eine makroökonomisch effiziente Fiskalpolitik das Einkommen vom Haushaltssektor auf eine solche Weise zum Staat umverteilen, dass das private Sparen sinkt, nicht aber der Konsum. Gleichzeitig gilt es, kurzfristig-spekulative Aktivitäten auf den Finanzmärkten einzuschränken und langfristig-realwirtschaftliche Aktivitäten der Unternehmen zu fördern. Daraus folgt weiter: Die Maßnahmen des »New Deal« sind durch Beiträge hoher und höchster Einkommen und Vermögen sowie durch eine höhere Besteuerung von Finanztransaktionen und Finanzvermögen zu finanzieren. Denn ein Kernproblem des Ausbruchs aus einer hartnäckigen Stagnation ist die unzureichende gesellschaftliche Nachfrage. (...)
Um dies und auch die anderen angesprochenen Punkte auf den Weg zu bringen und damit den in den Gründungsdokumenten der neuen Linken formulierten Ansprüchen schneller gerecht zu werden, müsste innerhalb der Partei DIE LINKE die politisch-theoretische Debatte verstetigt werden. (…) Konkret ginge es etwa darum, Wirtschaftsdemokratie als Alternative zu debattieren und stark zu machen - mit weitreichenden Veränderungen in den Unternehmen und der Organisation der Arbeit: Zurückdrängung von Shareholder Value-Steuerung, Outsourcing und Konzentration auf das profitabelste Kerngeschäft. »Neue Wirtschaftsdemokratie« müsste als komplexes Programm ausgestaltet werden: von demokratischer Partizipation im Betrieb bis zu makroökonomischer Wirtschaftssteuerung. Dazu gehören Antworten auf die Fragen, wie ambitionierte Anforderungen von Wirtschaftssteuerung mit einem Aktivierungskonzept von »unten« gekoppelt werden können.
Wenn es gelingt, eine Verständigung über die zentralen Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung und die Notwendigkeit der Ausarbeitung konkreter Alternativen stärker ins Zentrum der innerparteilichen Debatte zu rücken, wäre das ein weiterer Gewinn auf dem Weg der Stabilisierung der neuen linken Formation. Und wenn dies in absehbarer Zeit mit dem angedachten Zukunftskongress gekrönt werden könnte, wäre dies nicht nur ein deutliches Signal für die Parteientwicklung, sondern würde darüber hinaus die Debatten der gesamten politischen Linken, der zivilgesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Kräfte befördern.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.