Chance eines Sieges – Weltmeister und »Wir«
Fans feiern die deutsche Nationalmannschaft an der Fanmeile
Berlin. »Wir sind alle Weltmeister«, rief Joachim Löw von der Bühne vor dem Brandenburger Tor. Die meisten haben den Bundestrainer und seine Weltmeistermannschaft am Dienstag auf der überfüllten Berliner Fanmeile nicht live sehen können. Einen Platz in den ersten Reihen hatten nur diejenigen, die entweder schon die Nacht vor den Absperrgittern verbracht hatten oder pünktlich um sechs Uhr morgens zur Öffnung der Fanmeile erschienen waren, die meisten Eingänge wurden schon zwei Stunden später wegen Überfüllung wieder geschlossen. Insgesamt mehr als eine Million Menschen empfingen die Sieger aus Brasilien: am Flughafen Tegel, auf den Straßen während der Fahrt im offenen Truck zum Pariser Platz und an deren Ziel.
Die letzten offiziellen Zahlen der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder ergaben: 80 716 000 Millionen Menschen leben in Deutschland. Von der 300 000 Euro Siegprämie ausgehend, müsste der Deutsche Fußball-Bund (DFB) demnach über 24 Billionen Euro zahlen. Das wird er nicht tun. Warum sollte er auch? Weltmeister sind diejenigen, die den Sieg in den Stadien von Brasilien erspielt haben. Das Gefühl eines Sieges aber spüren viele. Von leichter Freude mit einem Lächeln im Gesicht bis hin zur großen Glückseligkeit mit Tränen in den Augen und »Wahnsinn«-Rufen, weil einem dazu nichts anderes mehr einfällt. Das konnte man in der Finalnacht vielerorts ebenso beobachten wie am Dienstag in Berlin.
Dieses »Wir«-Gefühl in Schwarz-Rot-Gold macht einigen Angst. Weil es, wie auch mancherorts nach dem Titelgewinn, von einigen nationalistisch missbraucht wird. Unverbesserliche eben. Aber deshalb, und aus Vorurteilen heraus, einen Jubel in den deutschen Farben ablehnen? Nein. Denn dieses »Wir«-Gefühl hat sehr viel mehr positive Effekte. Önal und seine fünf Freunde, alles türkischstämmige Jugendliche aus Berlin-Kreuzberg, sind am Dienstag auch am Brandenburger Tor. Vier von ihnen tragen deutsche Trikots, Önal eines von Mesut Özil. Sie erzählen, wie enttäuscht sie seien, dass die Fanmeile schon überfüllt war als sie ankamen. Und sie erzählen, wie sie alle am Sonntagabend gefeiert haben: laut, jubelnd, mit einigen Knallern auf ihrer Straße. »Mario Götze«, antwortet Önal entschlossen auf die Frage, wer sein WM-Held sei. Vier seiner Freunde nicken, der fünfte widerspricht: »Manuel Neuer«.
An diesem Tag sieht man auch viele Fans im Trikot von Sami Khedira, keine Tunesier. Es gilt, die große integrative Kraft des Fußballs zu nutzen. Dieser Sieg bietet – wie das Sommermärchen 2006, die EM 2008 und die WM 2010 – eine weitere Chance dazu. Und nebenbei war es auch sehr schön zu sehen, wie ein Doppelstockzug auf freier Strecke hielt, Schiffe auf der Spree querstanden oder Bauarbeiter sich auf Gerüsten drängelten, statt zu arbeiten: Die Zeit stand in der hektischen Hauptstadt kurz still. Sie alle wollten einen Blick auf die Weltmeister erhaschen und das Gefühl des Sieges genießen. Also keine Angst. Nur das meint Joachim Löw damit, wenn er das nächste Mal ruft: »Wir sind alle Weltmeister.«
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