Lektionen der Geschichte
Die Gedenkstätte Buchenwald führt junge Frauen aus Russland und der Ukraine zusammen
Die kleinen Kämme, die hier auf der sogenannten Halde II in der Erde liegen, wurden von den Häftlingen im KZ Buchenwald nicht dazu genutzt, sich die Haare zu richten. »Sie waren dazu da, um etwas gegen die Läuse zu tun, mit denen die Menschen vor allem im Kleinen Lager zu kämpfen hatten.« Zwei, drei, vier dieser fi- ligranen Fundstücke liegen in dem Eimer, der vor Jan Malecha steht.
Um Malecha herum arbeiten etwa ein halbes Dutzend junger Männer und Frauen inmitten eines Waldes auf dem Gelände der Gedenkstätte Buchenwald. Sie wühlen im Boden, sieben Erde, bürsten an metallischen oder keramischen Gegenständen, um zu entscheiden, ob sie in den Eimer mit den Kämmen gehören oder doch eher Müll sind. Die Kämme und viele andere Fundstücke erzählen von der Vergangenheit. Wie sie fast 70 Jahre nach dem Untergang des NS-Regimes wieder an die Oberfläche geholt werden, das erzählt von der Gegenwart.
Malecha arbeitet als Pädagoge bei der Gedenkstätte und ist einer der Verantwortlichen für dieses Sommercamp, an dem insgesamt 20 Männer und Frauen aus verschiedenen Teilen Europas mitwirken. Sie beteiligen sich an archäologischen Grabungen, helfen bei der Restaurierung der gefundenen Stücke und arbeiten am Gedenkweg des ehemaligen Konzentrationslagers, das 1937 erbaut worden war und in dem die Nationalsozialisten bis 1945 mehr als eine Viertel Million Menschen inhaftierten. Etwa 56 000 von ihnen starben im Lager. Nach dem Ende des NS-Regimes nutzte die sowjetische Besatzungsmacht Buchenwald als »Speziallager Nr. 2«, um Verantwortliche für den NS-Terror einzusperren.
Nicht nur, sagt Malecha, dass die jungen Menschen durch ihren freiwilligen Einsatz in der Gedenkstätte helfen, die Erinnerung an die Schrecken des Lagers wach zu halten, weil sie Zeit-Zeugnisse retten. Schon dass sie hier arbeiteten sei ein wichtiger pädagogischer Baustein im Konzept der Gedenkstätte.
In dem Eimer mit dem Kämmen liegen auch viele Knöpfe, ein völlig verrostetes Schloss, ein abgebrochener Löffel. All diese Stücke erzählen etwas darüber, unter welchen Bedingungen vor den Toren Weimars gelebt und gestorben wurde. Auf vielen sind Namen eingraviert. Oder Häftlingsnummern. In den Augen der Nationalsozialisten waren die Inhaftierten keine Menschen, sondern bestenfalls Dinge, die sich mit Hilfe von Ziffern inventarisieren ließen. Manch einer der Inhaftierten verinnerlichte diese Sicht so sehr, dass ihm seine Häftlingsnummer bald wichtiger war als sein Name.
Während Malecha sagt, es sei ziemlich unmöglich jemals genau zuzuordnen, wo das gefundene Schloss benutzt worden sei, wirft eine junge Frau mit blonden Haaren einen Knopf in den Eimer: Oleksandra aus der Ukraine. Sie lebt in Kiew und hat im Wintersemester 2013/2014 an der Universität Jena studiert. Ihre Eltern leben und arbeiten in der Ostukraine, jenem Teil Europas, in dem seit Monaten Krieg ist. Weil ihre Eltern Ärzte seien, hätten sie inmitten dieses Krisengebietes gerade viel zu tun, sagt sie.
Dass sie gemeinsam mit den beiden Russinnen Varvara und Kamilla an diesem Ort des Todes in der Erde nach Hinterlassenschaften der Häftlinge sucht, ist der in diesen Tagen besonders bedeutsame Teil dieses Projekts. Denn während sich wegen des Konflikts in der Ostukraine Ukrainer und Russen auf politischer Ebene feindselig gegenüber stehen, arbeiten die drei jungen Frauen hier Hand in Hand - an einem Ort, der für sie trotzdem verschiedene Bedeutungen hat. Die Frau aus der Ukraine interessiert sich insbesondere für die Geschichte Buchenwalds als sowjetisches Speziallager. Die beiden Russinnen wollen vor allem mehr über die Geschichte Buchenwalds als NS-Konzentrationslager erfahren - auch weil Tausende sowjetische Kriegsgefangene hier getötet wurden.
Über ihre unterschiedlichen politischen Ansichten und ihre verschiedenen Sichtweisen auf den Ukraine-Konflikt, so erzählen die drei Frauen, redeten sie sehr viel - nach den Grabungen. »Besonders«, sagt Oleksandra, »wollen wir wissen, was die jeweils andere Seite denkt.« Das, was in der Ukraine in den Nachrichten berichtet werde, sei offenbar völlig verschieden von dem, was man den Menschen in Russland erzähle. Buchenwald sei wegen seiner Vergangenheit ein guter Ort für diese Art von Gespräche, um solche auch medial geschaffenen Gräben zu überbrücken. An diesem Ort des Todes, sagt Oleksandra, könne man doch besonders gut über »die wesentlichen menschlichen Werte sprechen«, darüber, wie das friedliche Zusammenleben zwischen Menschen sein müsse.
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