Es ist die Zeit der Hautschäden, der rauen Flecke und Verfärbungen, der strohigen Haare und des Verlustes auch aller weiteren Geschmeidigkeiten.
Das Alter.
Vielleicht ist jenes offenkundig Kindische, das jedes Altern in regelmäßigen Schüben begleitet, ein Ausdruck letzter beglückender Befreiung - von bisheriger Verantwortung. Aber sogar diese Heiterkeit des alten Menschen markiert etwas Verzweifeltes: Mag er lachen, wie er will, die Mundwinkel weisen abwärts zur Grube.
Martin Walser hat einen Roman über das Alter geschrieben. Über das Männliche, das scheinbar unvorbereitet dem jungen Weib begegnet und in der Begegnung erkennt, wie lange darauf gewartet wurde. Fiebrig. Fantasiegeschüttelt. Betthungrig. Walser stellt dem Alter nicht nach, wie ein Entfernter, der noch scheinbar frei ist von Verwandtschaften mit dem Unabänderlichen. In diesem verwirrend meisterlichen Buch eines fast Achtzigjährigen ist es einfach da, das Alter, einfach da, in der ganzen Erschütterlichkeit jener letzten Lebendigkeitsversuche, die so lächerlich wie tragisch, so vergeblich wie rechtfertigungslos natürlich sind. Dorthin stellt der Autor seine Romanmenschen: wo sie alles haben und wo doch nichts mehr Bestand hat - und wo trotzdem das Wünschen wuchert. Jede Sekunde eine letzte; jeder Genuss ein unweigerliches Abschiedszittern, und doch ist da ein Illusionsschneewehen, als ginge alles noch, was in der Jugend ging. Nein, nicht, was ging; was stürmte, tobte.
Walser porträtiert die Geilheit in Todesnähe, in einer schonungslosen Sprache des geträumten und wirklichen Ficks, und das ist so undelikat, wie es eben ist; das ist so offen, wie man es all zu öffentlich gar nicht haben will; das ist schließlich so gemischt aus literarischer Raffinesse und unzensierter Geständnisgier, dass Lesen zum Hin- und Hergerissensein wird. Derart radikal, derart anstößig, derart lustvoll unanständig war Walser noch nie. Aber seit langem schon lief ihm alles auf Ungeschütztheit hin; Schreiben als Risiko, nicht nur als Panzer. Radikal beschreibt er das Werk der Sehnsüchte, die rücksichtslos in uns hineinfahren und nicht danach fragen, ob wir schon oder noch für sie gemacht sind. Anstößig ist seine lustgreisige Ehrlichkeit (»es gibt nichts als den Geschlechtsverkehr, alles andere ist Umweg, Ablenkung, Betrug«). Lustvoll un-anständig gerät Walsers jüngstes Gericht über einen lebenslang behaupteten hohen Sinn von Dasein; am Ende der Männlichkeit aber bleibt - wie ein Rettungshecheln, das freilich ebenfalls scheitern muss - der wahrlich nackte Selbstbehauptungsreflex einer im Verwittern noch mal juckenden Biologie. Die »Angstblüte« eben, jenes botanische Wunder eines letzten Schönseins, bevor eine Pflanze verwelkt. Der Orgasmus, der mit dem Sterbenszucken zusammenfällt. Eros, der nach Erfüllung drängt, die seinen Tod bedeutet.
Das Sterben ist grausam, welchem man zusehen muss. Walsers Roman ist ein erbarmungsloses Zusehen, ein grausames Hineinsehen in eine Krampfader-Topografie des Schreckens, der da heißt: Die Gefühle bleiben jung; in jedem Mann lebt ein Professor Unrat, den Brüste und Blondheiten in vernunftblinde Blödheiten stürzen lassen. Aber die Blödheiten, und das ist das tief Menschliche an Walsers Werk, sind ja nicht nur Blödheiten, sondern Aufruhre gegen die Sittendrohkulisse, die uns zur Aufführung von ordentlichen Lebensläufen, also zur Ordnung ruft. In der jeder sich so zu verhalten hat, wie es seinem Alter gemäß sei? »Er ist alt, das stimmt. Aber er hat keine anderen Wünsche und Absichten als jemand, der zwanzig Jahre jünger ist. Der einzige Unterschied: er muss so tun, als habe er diese Wünsche und Absichten nicht. Als sei er darüber hinaus. Deshalb ist das Alter eine Heuchelei vor den Jüngeren.«
Einmal spricht der Autor von der »Tagesmoral«, mittels derer wir Träume verschweigen, verdrehen, verharmlosen, sie »einordnen in die Seelenlandschaft, aus der auszubrechen geträumt worden war«. Das ist nicht nur wieder einer jener unübertroffenen Walser-Sätze, die auch aus diesem Roman zugleich unzählige, scheinbar leicht hin- und eingeworfene Essays machen, es ist auch schon der Roman selber: Die vernutzte Kraft des Helden entblößt sich noch ein einziges Mal so obszön wie möglich; seine verstörte, schwitzende, bemühte, sabbernde Überschreitung der Norm, zur Ehe geronnen, feiert sich als Wiederkehr früheren Begehrens und triumphiert zugleich über die Zurechtweisungen der Alten durch unsere Welt überjungen Designs.
Diese Hauptgestalt des Buches ist der 71-jährige Anlageberater Karl von Kahn (Kahn, der Titan; oder gar: Citizen Cane). Er ist Anlageberater, seine Frau Ehetherapeutin. Und da ist Joni Jetter, die Schauspielerin, in die sich Kahn verliebt. Ein Köder nur - um Kahn für eine Summe zu ködern, Sponsoring für einen Film. Köder oder nicht, was machts der Liebe aus.
Die Hörigkeit des alten Kahn, den Zwecke nicht interessieren, und die Ungehörigkeit der jungen Joni, die einem Zwecke dient, machen die komisch-tragische Spannung des Romans aus. Die Komödie liegt im Aberwitz der Kahnschen Liebestollheit, seine Tragödie liegt in der Allerweltsweisheit, dass jedes Ding sich nur zum Schlimmeren wenden kann.
Walser ist ein toller Erfinder mitten im Wirklichen. Um seinen Kahn perlen sich großartig dichte Figuren, die von müder Kulturschickeria und unglücklichem Wohlstand erzählen, von matter Elite und künstlich aufgekratzter Intelligenzija, von krudem Globalisierungsgeist und verstörtem Innerlichkeitsbetrieb. Von Lebensmühe und (Kahns Bruder) noch größerer Mühe im Freitod.
Walser denkt in betörenden Sätzen, was Einsamkeit ist oder Wahrheitstünche, Benehmenslüge und Auskommenskultur zwischen Mann und Frau, zwischen Mensch und Gesellschaft. »Je genauer man einen anderen Menschen kennen lernt, desto weniger kann man mit ihm befreundet sein«. Man liest und weiß Walsers Glück: Man leidet an allem, woran man sehr leidet, weit weniger, wenn man ausdrücken kann, wie sehr man leidet.
Dieser Autor liebt das oder nicht, er liebt das und. Geld oder Liebe? Geld und Liebe. Kahns Welt: das Geld behandeln wie eine Geliebte. Geldvermehrung als Liebeskunst. Überhaupt: als eine Kunst. Die Vermehrung als schöpferischer Akt wider das profane Konsumieren. Verbrauch zählt nicht; was zählt, ist das Spiel, in dem nichts weniger wird. Wie sich Kahn zum Geld verhält, so überkommt ihn die Liebe, überkommt ihn die Unersättlichkeit, mit dem er allem Notwendigen, das ihm zur Mäßigung rät, nun sehr rigoros ungeschönte Gefühle entgegentrotzt.
Am Ende, wenn Kahn von Joni verlassen wurde, ist er ein Geschlagener, dessen Sehnsuchtssiege trotzdem nicht aufzuhalten sind. Wie Faust, der in jedem Weibe Helena sieht. Kahn sieht überall nur noch Weiber, die ihn wollen. Der Teufel, der ihn packt, ist ein Unterleibhaftiger. Der beglückende, närrische Kahn-Wahn. Das lässt nicht nach, was lang schon vorbei ist. Das ist anschwellender Bocksgesang, natürlich ohne Echo. Also peinlich. Quälend jämmerlich, der Ego-Prunk. Ein alter Mann, im Höhenflug, indem er die Hosen runterlässt. Im Geist ein Fleischesglühn, ohn Unterlass. Die Offenheit seiner Vergeilung sucht sich noch einmal letzte klare Worte.
Man lebt in Kleidung, in Umkleidung, und am Ende fallen die Hüllen. Ein schöner Anblick ist das nicht. Aber könnte es dennoch eine Ahnung von schönem Leben sein, so weltfrontal so un-verschämt zu sein? Wie der Narr Kahn? Walser antwortet nicht, er gibt eine Frage weiter. Und hinterlässt uns in letzten Sätzen eine letzte schmutzige Metapher: Wasser einer Badewanne, das nicht schnell genug in den Abfluss zu kommen scheint. Aber alles andere wäre ja lächerlich. Beim Menschen, beim Wasser. »Das wäre lächerlich, Wasser, das sich dagegen wehrt, verschwinden zu müssen.«
Martin. Walser: Angstblüte. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek. 477 S., geb., 22,90 EUR
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