Jesiden im Fadenkreuz
Dschihadisten verfolgen religiöse Minderheit in Nordirak / Hilfsangebot von Kurden
Die von Al Qaida abgespaltene Gruppe »Islamischer Staat« (IS) hat in dieser Woche ihre Angriffe stark intensiviert und dabei die Städte Sindschar und Sumar ihrem Herrschaftsbereich einverleibt. Sie eroberte den landesweit größten Staudamm am Tigris und zwei Ölfelder. In der betroffenen Region leben überwiegend Anhänger von Religionen, die der sunnitisch-islamistischen Gruppe als ungläubige Feinde gelten: Jesiden, Alewiten und Christen; ethnisch betrachtet vor allem Kurden, Assyrer und Armenier.
IS strebt, um ein Kalifat errichten zu können, ein zusammenhängendes Gebiet von Mossul bis Nordwestsyrien an. Die Dschihadisten hatten Mitte Juni in der an Erdölfeldern gelegenen Metropole Mossul Panzer und schwere Waffen erbeutet, die sie seitdem in Irak und Syrien einsetzen. Ihre Führung hatte es für »helal« - glaubenskonform - erklärt, dabei »Ungläubige« zu vernichten. Immer wieder gibt es seitdem Augenzeugenberichte über Folter, Vergewaltigungen, Vertreibung, Zwangskonvertierung und Massaker. Schätzungen der UNO zufolge flohen mehr als 200 000 Verfolgte in die als stabil geltenden kurdischen Autonomiegebiete.
Mit Sindschar an der irakischen Grenze zu Syrien eroberten die »Glaubenskrieger« am Sonntag auch ein historisches Zentrum der kurdischen Jesiden. Die Jesiden sind eine kurdisch sprechende, nichtmuslimische Minderheit, deren Religion teilweise auf dem altiranischen Zoroastrismus beruht. Das Jesidentum der Region ist etwa 900 Jahre alt. Aber nachdem sich die Peschmerga, die Elitetruppe der irakischen Kurden, Ende Juli kampflos zurückgezogen hatte, waren IS-Kämpfer in das Jesidengebiet einmarschiert. In Syrien stehen die Volksverteidigungseinheiten (YPG) der Kurden bereits seit Monaten im Abwehrkampf gegen IS, konnten bislang aber alle Angriffe auf ihr Territorium abwehren. Die Jesiden in Sindschar baten nun die YPG sowie die - türkische - Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) um Schutz. Der Irak-Sonderbeauftragte der UNO, Nikolaj Mladenow, warnte inzwischen vor einer Katastrophe, da es den Tausenden in die umliegenden Berge Geflüchteten an Lebensmitteln und Wasser mangele.
Der Chef der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP), gleichzeitig Präsident der kurdischen Autonomieregion, Massud Barsani, hatte den vertriebenen Jesiden am Montag über das Nachrichtenportal Basnews die Rückeroberung ihrer Siedlungsgebiete versprochen. Am Dienstag machten sich PKK-Kämpfer auf den Weg nach Sindschar, »um die Bevölkerung vor weiteren Massakern zu bewahren«, wie Murat Karayilan vom PKK-Exekutivrat sagte, der bereits seit Juni für ein gemeinsames Agieren aller Kurdenverbände gegen IS plädiert.
Ob die KDP, wie von Kritikern gedeutet, mit IS in der Vergangenheit gegen die Zentralregierung in Bagdad paktiert hat, ist schwer zu sagen. Beide Seiten profitierten bislang von gegenseitiger Nichteinmischung. IS hält sich aus der Erdölregion Kirkuk heraus, die seit dem Abzug der irakischen Armee von der KDP kontrolliert wird; die KDP habe IS dafür vorerst in Mossul agieren lassen, heißt es. Dem folgt nun die Ankündigung Barsanis, IS bekämpfen zu wollen. Auf dem kurdischen Flughafen von Erbil waren kürzlich schwere Waffen eingetroffen, die den Kurden von den USA bislang verweigert worden waren.
In Strategien der USA und von EU-Regierungen wird eine kleingliedrige Neuaufteilung im Mittleren Osten anhand von ethnischen und religiösen Spaltungslinien als wünschenswert angesehen. Kurdische Nachrichtenagenturen berichteten von einem Geheimtreffen von IS-Abgesandten mit Vertretern aus NATO-Staaten und der KDP am 9. Juni in Amman. Eine Aufteilung Iraks in einen schiitischen, einen sunnitischen - unter IS - und einen kurdischen Teil käme der KDP entgegen, die einen auf Ölhandel fixierten kurdischen Staat, ähnlich den Emiraten am Persischen Golf, anstrebt.
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