Unterwegs im Spree-Hanoi
Vietnamesen in Berlin leben zwischen guten Pisa-Werten und Sprachbarrieren
Die ersten Assoziationen sind meist »höflich, freundlich, gebildet«, aber auch: »Die machen komische Geschäfte, Zigarettenmafia, an die kommt man nicht ran «, sagt Herr Duc von der Vereinigung der Vietnamesen in Berlin & Brandenburg e.V auf einer Infotour der Senatsverwaltung für Integration am Donnerstag. Die Tour führte zunächst zum Marzahn-Hellersdorfer Verein »Reistrommel« und schließlich in die Herzbergstraße nach Lichtenberg. »Berlin ist multikulturell, dabei werden aber vor allem die großen und lauten Communities wahrgenommen«, sagte Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD). Lautstärke und auf sich aufmerksam machen, sind keine Stärken der vietnamesischen Einwanderer, weshalb ihr Bild in der Öffentlichkeit von Vorurteilen geprägt ist.
Um die Potenziale, Perspektiven und Probleme der vietnamesischen Berlinerinnen und Berliner besser zu erkennen, besuchte Senatorin Kolat gestern die Community an zwei Standorten. Begleitet wurde sie dabei von Vertretern unterschiedlicher vietnamesischer Vereine und Organisationen.
Etwa 14 000 Personen mit vietnamesischer Staatsangehörigkeit sind derzeit in Berlin gemeldet. Die meisten leben in Lichtenberg und in Marzahn-Hellersdorf. »Die wirtschaftliche Aktivität der Vietnamesen ist auffällig positiv, ebenso wie schulische Erfolge«, erklärte die Senatorin. Über die Hälfte der Kinder besucht das Gymnasium und bei der Pisa-Studie haben sie besser abgeschnitten als deutsche Kinder. Aber Statistiken und Realität gingen oft auseinander, so Tamara Hentschel, Geschäftsführerin vom Reistrommel e.V. in Marzahn-Hellersdorf. Studienergebnisse des Vereins zeigen, dass über 70 Prozent der Vietnamesen in Marzahn-Hellersdorf über keine oder nur geringe Deutschkenntnisse verfügen, ca. 80 Prozent haben einen niedrigen Schulabschluss bzw. keinen Berufsabschluss. Ein hoher Anteil bezieht ALG II.
Grund für die schlechte Integration der vietnamesischen Einwanderer sehen sowohl Tamara Hentschel als auch die interkulturelle Beraterin Mai-Phoung Kollath in der Politik der 80er und 90er Jahre. In der DDR gab es weder für die aufgenommenen Flüchtlinge noch die Vertragsarbeiter Integrationsprogramme. Grund dafür war, dass die Rückkehr nach Vietnam als selbstverständlich angesehen wurde. Den so genannten »Boatpeople«, die ab 1979 in die BRD flohen, wurden deutlich mehr ökonomische Möglichkeiten zur Verfügung gestellt, wie z.B. eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Sprach- und Integrationskurse für Alltag und Beruf gab es aber auch hier nicht.
»Die Sprachbarriere der mittleren und älteren Generation ist das größte Integrationsproblem«, so die Medizinerin Mai Thy, die im Vorstand des Vision of Intercultural Empathy Worldwide e.V. tätig ist. »Die Menschen haben sich Rückzugsorte innerhalb der Gesellschaft geschaffen, in denen sie gut klarkommen, ohne mit Deutschen Kontakt zu haben. Deshalb sind bei Behördengängen immer die Kinder dabei, die gut Deutsch sprechen.« Ziel des Vereins ist es, Berührungsängste abzubauen.
Um das »Integrationsloch«, wie Tamara Hentschel es nennt, zu stopfen, muss noch viel getan werden. Zwar gibt es das Integrations- und Partizipationsprogramm des Senats, doch reiche das Geld nie, unterstreicht Senatorin Kolat. Ehrenamtliches Engagement sei von »unschätzbarem Wert«, egal, ob es um Kinderbetreuung, Sprachkurse oder sportliche Aktivitäten gehe. Am besten solle Integration bei Deutschen und Vietnamesen so früh wie möglich beginnen.
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