Unheilvolle Allianzen

Vom Wandel des Antisemitismus in Deutschland

  • Abraham Goldstein
  • Lesedauer: 4 Min.

Als Jude ist es nirgendwo in der Welt wirklich angenehm, nicht einmal in Israel. Das führt zwangsläufig dazu, dass man, wenn möglich, unauffällig lebt. Das heißt nicht unbedingt, dass man sich verstecken muss, aber man meidet besondere Aufmerksamkeit, es sei denn, man ist im Showbiz. Jon Stewart beispielsweise, der Star von »The Daily Show«, der als Jonathan Stuart Leibowitz geboren wurde, macht heute keinen Hehl daraus, dass er Jude ist - aber er erwähnt es auch nicht permanent.

Auch als Jude in Ungarn und einigen anderen osteuropäischen Staaten ist man eher zurückhaltend, schließlich weiß man auch durch andere Minderheiten dort, wie schlecht es einem ergehen kann, wenn man im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung steht. In Deutschland dagegen musste man bis um die Jahrtausendwende höchstens erstaunte Blicke fürchten, wenn man mit einer Kippa auf dem Kopf gesehen wurde, und das Wort »koscher« schien in Restaurants ein exotisches Fremdwort zu sein. Nach dem Jahr 2000 schien man es sogar zu feiern, als die Zahl der in Deutschland ansässigen Juden 100 000 erreichte.

Auch ich bin zurückgekehrt nach Deutschland, in das Land meiner Ahnen. Und auch wenn ich meine Jugend in Westdeutschland verbrachte und mir das Land und die Sprache deshalb nicht völlig unbekannt sind, sehe ich die enormen Veränderungen, die Deutschland hinter und vor sich hat. Vieles hat sich in meinen Augen zum Positiven verändert, vieles gar nicht - und vieles scheint immer wieder wie eine lästige Mücke zurückzukommen. Zum Beispiel der Antisemitismus. Der Antisemitismus an sich ist einfach zu erklären, aber nicht unbedingt die Zusammenhänge und sein Missbrauch für weitere Diskriminierung und Rassismus.

Tatsächlich erlebe ich in Deutschland seit meiner Rückkehr neben vielen schönen Dingen leider auch eine bizarre Mischung aus Rassismus, Antisemitismus und -zionismus sowie Neonazismus, dem sich der sogenannte »Rechtspopulismus« beimengt. Letzterer macht sich die Gewalt in Gaza zunutze, um hinter der »Unterstützung für Israel« seinen Rassismus und seine Islamophobie zu verbreiten - wobei es in Wirklichkeit gar nicht um den Islam geht, sondern um den xenophoben Hass auf Muslime, seien sie nun gläubig oder nicht. Es ist der nach dem Pseudo-Genealogen Thilo Sarrazin bezeichnete »unproduktive türkische Obst- und Gemüsehändler« und der »arabische Familienclan«, der angeblich auf Kosten der Deutschen »sozialschmarotzend« an deren Hals sitzt, den die neue extreme Rechte im Blick hat. Oder es sind schwarzafrikanische Asylbewerber, die natürlich erwartungsgemäß Drogendealer sein müssen.

Und natürlich osteuropäische Arbeitssuchende. Und genau genommen auch die »Pleite-Griechen«, denen bald auch Spanier und Portugiesen folgen könnten, wenn ihre Staaten nochmals finanziell vom reichen Deutschland »gerettet« werden müssen oder mehr von ihnen zur Arbeitssuche hier erscheinen. Es ist der alte Ausländerhass, der schon in den 1980er Jahren unter dieser heute ausrangierten Bezeichnung existiert hatte.

Viel wirkungsvoller als das Wort »Ausländer« ist heute - dank der geschickten PR-Arbeit von Al-Qaida und Osama bin Laden - die Bezeichnung »Muslim«, denn sie fasst gleich alle Nationalitäten und Ethnien in eine Gruppe zusammen, wobei es überhaupt keine Rolle spielt, dass es in dieser Gruppe etliche verschiedene Glaubensrichtungen gibt. Es hat eine klare und erfolgreiche Ethnisierung völlig unterschiedlicher Menschen - nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa insgesamt und den USA - stattgefunden, die sich auch nicht mehr rückgängig machen lässt.

Als Jude in Deutschland wird man heute mit vier »U« konfrontiert: unerwartet unheimlich und ungewollt umschwärmt - und angegriffen. Links die teils antisemitische arabischstämmige Minderheit, rechts die falschen Freunde, die sich als Verbündete gegen die Muslime anbieten, dazwischen Neonazis, die sich mit ihnen verhassten Arabern im Kampf gegen Juden verbünden, obwohl sie die Muslime ja am liebsten mit dem »fliegenden Teppich« deportieren wollen. Nebenher, quasi als nützlicher Nebeneffekt, verblasst der Holocaust an den Juden: Den deutschen Antisemiten gibt es nicht mehr - und wenn, dann in Form eines »muslimischen« Migranten »mit deutschem Pass«. Immer sollen die anderen die Antisemiten sein, möglichst nicht-deutsch Aussehende. Zwei Fliegen mit einer Klappe erledigt, durch die Agitation von Rassisten und Xenophoben.

Dieser Tage veröffentlichte der »taz«-Redakteur Deniz Yücel einen Meinungsartikel, in dem er auf sarkastische Weise beklagte, »als Deutscher« habe man »kein Menschenrecht auf Israelkritik«. So unsinnig große Teile seiner Behauptungen auch sind, im Kern erfasst er ein tatsächlich typisch deutsches Problem, nämlich die innere, selbst gesetzte Schamgrenze vieler Deutscher, die sie basierend auf der Geschichte daran hindert, sachliche Kritik an Israel mit sachlichen Argumenten auf sachliche Weise zu führen.

Tragischerweise ist es gerade der sich ausbreitende und geschürte Antimuslimismus, der das moderne Deutschland an der Lösung dieses Problems hindert, denn noch vor 15 Jahren hätte ein multikulturelles, multinationales Deutschland gegenüber der israelischen Politik genauso selbstbewusst auftreten können wie jedes andere Land dies tut.

Abraham Goldstein, geb. 1970 in Kansas, ist in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen. In den 1980ern kehrte seine Familie zurück in die USA. Dort studierte er Politik und war als Journalist und Publizist tätig. Seit 2013 lebt er in Berlin.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -