Lateinamerika auf keynesianischem Pfad
UN-Bericht: Wachstumsprognose in diesem Jahr auf 2,2 Prozent nach unten korrigiert - Regierungen steuern mit Ausgabensteigerung dagegen
Die Konjunktur zwischen Rio Grande und Feuerland stottert. Nach Jahren des Booms, getrieben von historisch hohen Rohstoffpreisen sowie einer wachsenden kauf- und zahlungskräftigen Mittelschicht, bekommt jetzt auch der 588-Millionen-Einwohner-Kontinent die Flaute auf dem Weltmarkt zu spüren. Zu diesem Ergebnis kommt die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) in einem aktuellen Bericht. Darin korrigierten die Experten der Vereinten Nationen die Prognosen für das Wirtschaftswachstum für 2014 um einen halben Prozentpunkt nach unten und gehen nunmehr nur noch von einem Plus von 2,2 Prozent aus. Die 2,5 Prozent vom Vorjahr seien nicht zu schaffen. Dabei sind die Wachstumsraten aktuell sehr unterschiedlich: Vorne liegen Panama (6,7 Prozent) und Bolivien (5,5 Prozent), am Ende Argentinien mit 0,2 Prozent. Venezuela ist das einzige Land, in dem die Wirtschaftsleistung sinkt - um 0,5 Prozent.
Als Hauptgründe für die konstatierte »Dämpfung des Wachstums« werden stagnierende Bruttoinvestitionen und ein schwächerer Privatkonsum genannt. Immerhin würden die Regierungen ihre Ausgaben weiter steigern und wachstumsfördernd in den Bau von Straßen, Häfen und Sozialprogramme investieren. Die CEPAL rechnet daher ab 2015 mit einem Ende der Schwächephase.
Allerdings hängt Lateinamerika nach wie vor auch stark von der Entwicklung in den globalen Machtzentren ab. Laut CEPAL stünden die Exporte etwas besser als 2013 da. Nach den Preisrückgängen bei mineralischen Rohstoffen und Agrarprodukten gebe es wieder eine leichte Erholung. Auf lange Sicht seien die Preise für Öl, Gas, Kupfer, Soja und Fleisch weiter auf »relativ hohem Niveau«. Die Nachfrage nach diesen Produkten aus Nordamerika, Europa und China hatte als Folge der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 nachgelassen. 2010 kam die Kehrtwende und die Region wuchs im zweiten Quartal um satte sieben Prozent. Aktuell nehmen die Exporte weiter zu, wenngleich mit schwächeren Wachstumsraten. Weil in Lateinamerika und der Karibik aber deutlich mehr importiert wird, fällt die regionale Handelsbilanz 2014 ausgeglichen aus, statt wie zuvor positiv.
Aus der Geschichte unzähliger Wirtschaftskrisen haben die Latino-Regierungen gelernt. In guten Zeiten wurden Einnahmen aus den Rohstoffrenten zurückgelegt. Die Staatshaushalte sind saniert, die durchschnittliche Verschuldungsquote liegt bei moderaten 2,5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Eine Studie des Internationalen Währungsfonds belegt, dass Regierungen aller politischer Couleur auf anti-zyklische Wirtschaftspolitik umgesattelt haben. Der neue Keynesianismus mit staatlichen Konjunkturprogrammen in Abschwungzeiten habe die gescheiterten neoliberalen Rezepte der 1990er Jahre »effektiv« abgelöst, heißt es bei der CEPAL. Heute sei es die Eurozone, welche die Fehler des »alten Lateinamerika« wiederhole und die Krise mit Einsparungen sowie prozyklischen Maßnahmen verschärfe und verlängere, so die Autoren.
Wohl eher Propaganda dürften Kassandra-Rufe wie die von André Loes von der Großbank HSBC sein, der den »Zusammenbruch der lateinamerikanischen Wirtschaft« binnen Zwei-Jahres-Frist vorhersagt. Daher müsse Lateinamerika in den kommenden Jahren »eine harte Zeit an Reformen ertragen«, erklärte der Analyst im neoliberalen argentinischen News-Portal »Infobae«. Freihandelshardlinern sind regionale Wirtschaftsbündnisse wie MERCOSUR und ALBA ein Dorn im Auge. Auch die Nationalisierungswelle im Rohstoff-, Transport-, Infrastruktur- und Telekommunikationssektor, aber auch die Sozialpolitik für Arme gelten als Bruch der reinen Marktlehre.
Der ekuadorianische Ökonom Pedro Páez Pérez, Vordenker einer »Neuen Finanzstruktur Lateinamerikas«, wittert in Äußerungen dieser Art eine »Destabilisierungsagenda«. Der jüngste Fall der argentinischen »Geierfonds« sei Teil eines »Finanzkrieges«, die nordamerikanische Hegemonie sehe sich durch den Aufstieg der Länder des Südens und der sozialen Fortschritte bedroht.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.