Die Seele taumelt
Die USA, Inbegriff des Optimismus, verlieren ihre Zuversicht
Wenn einer Weltmacht das Selbstvertrauen abhanden kommt, kündigen sich Verschiebungen im Weltgefüge an. Früher oder später, so oder so. Deshalb widerspiegelt das Ergebnis einer Untersuchung von »Wall Street Journal« und NBC News nicht nur Antworten auf Einzelfragen, sondern das Seelenleben einer Nation. Oder wie es »Washington Post«-Kolumnist Dana Milbank zusammenfasste: »Pessimismus und Schwarzsehen überschreiten die Grenzen von Reichtum, Geschlecht und Rasse, Region, Alter und Ideologie. Diese zerrissene Nation ist sich eins nur in einem noch: im verlorenen Glauben an die Vereinigten Staaten.«
Die Repräsentativumfrage, von den beiden Leitmedien regelmäßig wiederholt, wollte wissen: Rechnen Sie damit, dass das Leben Ihrer Kinder alles in allem besser als Ihr eigenes sein wird? Diese Frage, die ja auch in anderen Ländern gern gestellt wird, zielt bei US-Bürgern auf Kern und Selbstverständnis des Amerikanischen Traums - auf die selbstverständliche, stolze und unerschütterliche Zuversicht, dass es den Kindern noch besser als ihren Eltern gehen werde. Das ist der Amerikanische Traum. Doch der ist, offenbar, ausgeträumt, ausgehöhlt, tot. Nicht plötzlich und unerwartet, nicht von gestern auf heute. Die Grundstimmung rutscht schon länger. Aber so über- und durchgreifend war sie noch nie: 76 Prozent der US-Amerikaner erklären, sie hätten diesen Optimismus, dass es die Kinder einmal besser haben würden, nicht mehr. Nur 21 Prozent bejahen ihn. Das ist der schlechteste Wert, der für diese Grundaussage in den USA je gemessen wurde. Vor 13 Jahren, 2001, war jeder zweite grundoptimistisch, und nur 43 Prozent hatten Zweifel.
Milbank, der zu den angesehensten Beobachtern seines Metiers gehört, sagt, eine nähere Betrachtung der Eckwerte lasse »die Dinge noch schlimmer erscheinen, falls das überhaupt möglich ist«. Denn Soziologen der beiden großen Parteien (Demokraten und Republikaner), die die Generalumfrage gemeinsam durchführen, bestätigen, dass der Pessimismus in der US-Gesellschaft mittlerweile allgemein (»universal«) sei. Reiche und Superreiche (75 Prozent) habe er heute ebenso ergriffen wie Arme (71 Prozent). Frauen sind genauso verdrossen wie Männer, und die Unterschiede zwischen den Rassen seien unerheblich. Okay, Weiße haben noch weniger Zuversicht als beispielsweise Latinos, und Menschen in Amerikas Westen sind etwas weniger deprimiert als die im Osten oder Süden der Staaten, doch die Abstände zwischen ihnen sind nicht so dramatisch wie das Grundgefühl bei allen.
Wo sehen die Befragten die Gründe für ihr eigentlich unamerikanisches Verhalten? Ein abgerundetes Bild gibt es nicht, einige Anhaltspunkte durchaus. Stichworte: Fehlendes Vertrauen in Gesundheit und Stabilität des jüngsten wirtschaftlichen Aufschwungs; für Teile der Gesellschaft, namentlich Junge, erstmals seit einer Generation absolut sinkender Lebensstandard; Sorge über das Versagen des politischen Systems; Angst - ein Begriff, den Amerikaner, wenn überhaupt, lange nur mit anderen Nationen, vor allem mit Deutschen verbanden und sie deshalb auch mit dem deutschen Wort dafür benannten -, Angst, ihr Land sei nicht länger in der Lage, mit den Krisen der Welt fertig zu werden …
Ob eine weitere Verdrossenheitsursache darin liegen könnte, dass Amerika trotz all dieser Veränderungen sich täglich weiter versichert, eine, nein: die »unverzichtbare Nation« und das Beispiel für die Welt zu sein, ist durch die Umfrage nicht belegt. Dass Amerikas Seele taumelt, dagegen schon.
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