Reflektieren ist schön

Ulrike Heider über Sexualitätsdiskurse seit ’68

  • Gerhard Hanloser
  • Lesedauer: 2 Min.

Sie schreibt als eine Protagonistin der »Sexrevolte« um 1968 und betont, dass das Praktizieren und lustvolle Reden über Sex in der verstaubten Adenauerzeit einer Befreiung gleichkam. Ulrike Heider geht sämtlichen Diskursen über Sexualität bis in die heutige Zeit nach. Weder lässt sie dabei die Kommune-Bewegung und die neue Frauenbewegung unausgelotet noch die schwulen Aufbrüche und die ab den 80er Jahren um sich greifenden Versuche, mittels Gewaltapologie in der Begegnung der Geschlechter und SM-Praktiken ein »verschärftes Leben« auf den Plan zu rufen. Heiders Position ist unterlegt von einem kulturrevolutionären Optimismus, Humanismus und der Annahme einer (von nicht wenigen Stimmen aus der Frauenbewegung gelegentlich geleugneten) prinzipiell möglichen lustvollen Begegnung, ja Verschmelzung der Geschlechter.

Schmerz, Tod und Teufel, ein ins vorgeblich Lustvolle gewendeter katholischer Umgang mit Sexualität, der bei George Bataille und Freunden anzutreffen ist, verfallen ihrer Kritik. Sie macht auf den Bellizismus einstiger Alternativer und Linker aufmerksam, die interessanterweise ihren politischen Positionswechsel auch mit einem neuen affirmativen Aufruf zu »verschärftem Leben« und Geschlechterkrieg verbanden. Gegenüber neueren dekonstruktivistischen Theorien wie beispielsweise von Judith Butler bleibt die Autorin skeptisch. Dabei geht die 67-jährige Publizistin durchaus sympathisierend den neuesten queerfeministischen Theorien nach, würdigt deren libertäre Offenheit, doch eben nicht ohne die zuweilen bloß performative und wenig lebensweltlich praktikable und sozial umwälzende Praxis zu kritisieren.

Auch wenn im öffentlichen Raum - vor allem in der Reklame - eine umfassende Sexualisierung um sich greift, so steht um so mehr etwas aus: die Einlösung der Versprechen der Kulturrevolutionäre von einst: generelle Befreiung, soziale, politische wie libidinöse. »Die Sexuelle Revolution hat ebenso wenig stattgefunden wie die gleichzeitig erhoffte Soziale Revolution«, schreibt Heider. Heutzutage herrscht jedoch eher das Lamento über die angeblich unverantwortlichen Folgen der sexuellen Revolutionsversuche vor. Freie Liebe, Verständnis für Pädophilie, sexueller Übergriff - dem herrschenden Bewusstsein ist alles mittlerweile eins; über 1968 möchte man lieber distinguiert den Kopf schütteln. Zuweilen bricht sich auch eine regelrechte Verfolgungswut Bahn, die mit den Begriffen der Kritischen Theorie pathische Projektion zu nennen wäre. Für Ulrike Heider wären die Gründe für die einstige Toleranz gegenüber Pädophilie genauso zu untersuchen wie die »hysterische Triebhaftigkeit der heutigen Gegenposition«.

Ulrike Heider: Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt, Rotbuch, Berlin 2014. 256 S., br., 14,95 €.

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