Heilung ohne Wunder

Warum selbst Menschen, die von Ärzten aufgegeben wurden, plötzlich wieder genesen

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.

Arno K. war 63, als er die niederschmetternde Diagnose erhielt: Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Da eine Operation aussichtslos erschien, rieten ihm Ärzte, es mit einer Chemotherapie zu versuchen. Arno K. stimmte zu. Doch die Nebenwirkungen, die während der Behandlung auftraten, waren für ihn so belastend, dass er die Therapie wieder abbrach. Danach probierte er es mit alternativen Heilmethoden. Aber auch die brachten nicht den erhofften Erfolg. Immer häufiger litt Arno K. unter Atemnot und Schmerzen in der Brust. Auch der Tumor war gewachsen und hatte, wie sich bei einer Kontrolluntersuchung zeigte, neue Metastasen in anderen Organen gesetzt. Und obwohl ein gutmeinender Arzt Arno K. ermutigte, die Hoffnung nicht aufzugeben, bereitete sich dieser innerlich darauf vor zu sterben.

Doch dann geschah das schier Unfassbare. Arno K. ging es plötzlich wieder besser. Er nahm an Gewicht zu, die Schmerzen wurden weniger. Nach fünf Monaten fühlte er sich beschwerdefrei. Und auch seine Ärzte staunten nicht schlecht, als er sich erneut untersuchen ließ: Sowohl der Tumor als auch dessen Metastasen hatten sich gleichsam in Nichts aufgelöst.

Wie ist eine solche Spontanremission zu erklären? Geschieht sie auf natürliche Weise, oder bedarf es dafür eines unerforschlichen medizinischen Wunders? Viele religiös oder esoterisch angehauchte »Heiler« setzen auf die zweite Möglichkeit. Wenn ein Mensch plötzlich von einer unheilbaren Krankheit wie Krebs genese, verdanke er das allein der Gnade Gottes, meint zum Beispiel Karin Bamberg alias Claire La Belle, eine in Paraguay tätige deutsche »Geistheilerin«, die vorgibt, bei einem Nahtoderlebnis Jesus begegnet zu sein. Krankheiten hält sie für eine Art Strafe für menschliches Fehlverhalten und macht deren Heilung davon abhängig, dass die Betroffenen ihre Fehler einsehen und Gott um Vergebung bitten.

Dass auch andere Christen solche göttlichen Wunder für möglich halten, spricht für eine merkwürdige Logik ihres Glaubens. Denn es gibt vermutlich viele Menschen, die Gott anflehen, er möge sie von ihren Leiden erlösen, und die trotzdem einen qualvollen Tod sterben. Das heißt: Obwohl Gott angeblich die Fähigkeit besitzt, Menschen durch ein Wunder zu heilen, macht er bei der überwältigenden Mehrheit der Leidenden von dieser Fähigkeit keinen Gebrauch. Wie man unter diesen Umständen behaupten kann, dass Gott alle Menschen gleichermaßen liebe, ist mir ein Rätsel.

Esoteriker verzichten gewöhnlich darauf, einen jenseitigen Gott als Heiler zu bemühen. Aber auch sie können sich Spontangenesungen nicht anders erklären als durch das Wirken übernatürlicher Kräfte, an deren Segnungen der Kranke teilhat - sofern er sich bestimmten Ritualen unterwirft.

Mancher mag darüber vielleicht erstaunt sein: Aber anders als ein Heilpraktiker braucht ein »Wunderheiler« in Deutschland keinerlei Genehmigung für seine Tätigkeit. Diese sei vielmehr von der Berufsfreiheit geschützt, urteilte kürzlich das Amtsgericht Gießen und sprach damit einen 62-jährigen Mann frei, der hilfsbedürftigen Menschen versichert hatte, er könne unter anderem Krebs, Aids und Alzheimer durch Pendeln oder Handauflegen heilen. Dafür verlangte er je nach Schwere des Falls zwischen 60 und 1000 Euro. Solange eine solche »Behandlung« zu keiner Gesundheitsgefährdung führe, liege kein Verstoß gegen das Heilpraktikergesetz vor, betonte der zuständige Richter. Da der Mann überdies an seine paranormalen Fähigkeiten glaube, habe er seine »Patienten« nicht wissentlich getäuscht. Von diesen erklärten tatsächlich einige, sie seien geheilt worden.

An sich sind Spontanheilungen nichts Besonderes. Ein Schnupfen zum Beispiel geht nach wenigen Tagen auch ohne Behandlung wieder vorüber. Aber selbst bei schwereren Erkrankungen kann eine durch äußere Einflüsse induzierte Placebo-Wirkung zu erstaunlichen Spontanheilungen führen, wie der amerikanische Chirurg Bruce Moseley in einem Experiment demonstrierte. Er behandelte 120 Patienten mit Kniearthrose durch einen operativen Eingriff. Allerdings war in 60 Fällen die Operation nur inszeniert. Das heißt, die Patienten wurden ins Krankenhaus aufgenommen, erhielten eine Beruhigungsspritze und eine Narkose. Doch statt zu operieren, ritzte Moseley nur ihre Haut am Knie auf und verschloss die Wunde mit einer dicken Naht. Nach zwei Jahren, so zeigte sich, waren 90 Prozent der Patienten beider Gruppen mit dem Eingriff zufrieden. Und noch etwas stellte sich heraus: Unter den Patienten, die nahezu keine Schmerzen am Knie mehr verspürten, fanden sich mehr Nichtoperierte als Operierte.

Bei Krebs indes treten Spontanheilungen eher selten auf. Nach Schätzungen liegt die Chance, dass ein Tumor ohne Behandlung vollständig und dauerhaft verschwindet, bei etwa 1 zu 60 000. »Auf biologischer Ebene sind dabei zwei Abläufe denkbar«, sagt der Starnberger Onkologe Herbert Kappauf. »Entweder die Tumorzellen sterben ab, oder sie verändern sich derart, dass sie von normalen Zellen nicht mehr zu unterscheiden sind.«

Doch wie kommt es zu solchen Veränderungen? Viele Krebsmediziner favorisieren immunologische Effekte. Zwar entgehen Tumorzellen gewöhnlich der Kontrolle des Immunsystems. Gleichwohl ist es vorstellbar, dass sie durch eine plötzlich auftretende Infektion für die körpereigene Abwehr wieder »sichtbar« werden. Als weiterer Schwachpunkt erweist sich mitunter die Blutversorgung des Tumors. Denn bei einer großen Krebsgeschwulst sind die umgebenden Blutgefäße häufig nicht mehr in der Lage, dem Tumor ausreichend Nährstoffe und Sauerstoff zuzuführen. Normalerweise regen die Krebszellen daraufhin eine Aderneubildung an, so dass der Tumor weiter wachsen kann. In seltenen Fällen misslingt jedoch die zusätzliche Blutversorgung, und der Tumor stirbt ab. Auch hormonelle Veränderungen könnten bei der Tumorrückbildung eine maßgebliche Rolle spielen - namentlich bei Brust- und Prostatakrebs, deren Entwicklung von Sexualhormonen abhängig ist. Allerdings sind die Prozesse, die dem zugrunde liegen, noch wenig erforscht.

Offenbar gelingt es dem menschlichen Körper bei Spontanheilungen, nur die bösartigen Tumorzellen zu beseitigen. Das ist bei einer Chemotherapie anders. Diese greift auch gesunde Zellen an, wodurch es bei den Patienten unter anderem zu Haarausfall und Durchfall kommt. Mediziner arbeiten deshalb schon seit Jahren an sogenannten Immuntherapien, deren Ziel es ist, die vom Tumorwachstum betroffenen Zellen selektiv auszuschalten. 2012 gelang hierbei ein wichtiger Durchbruch: Am Children’s Hospital of Philadelphia wurden der an Leukämie erkrankten siebenjährigen Emily Whitehead spezielle Immunzellen entnommen und gentechnisch so verändert, dass sich damit Tumorzellen aufspüren und zerstören ließen. Und obwohl die Injektion der veränderten Zellen für Emilys Körper eine enorme Belastung darstellte, erholte sich das Mädchen und ist seit rund zwei Jahren krebsfrei.

Eine Frage wird traditionell besonders heftig diskutiert: Ist es möglich, Spontanheilungen durch ein besonderes Verhalten oder eine positive Lebenseinstellung gezielt anzuregen? Anekdotische Belege, die dafür sprechen, gibt es zuhauf. Doch Anekdoten ersetzen bekanntlich keine Wissenschaft. Tatsächlich hat nach einem Bericht des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg die Auswertung der verfügbaren Daten über Spontanheilungen keinen signifikanten Zusammenhang zwischen bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen und der Häufigkeit von dauerhaften Tumorrückbildungen erbracht. Nach wie vor gilt, dass für die Behandlung von Tumoren die »schulmedizinische« Krebstherapie unersetzlich ist, auch wenn diese manchmal ohne den gewünschten Erfolg bleibt. In solchen Fällen kann es für die Patienten immerhin ermutigend sein zu wissen, dass spontane Heilungen zwar selten, aber nicht unmöglich sind.

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