Gigantismus mit Nebenwirkung
Wie Gardelegen, drittgrößte deutsche Stadt, die Gebietsreform in Sachsen-Anhalt verkraftet
Deutschlands größte Stadt ist Berlin, ganz klar! Auch am zweiten Platz für Hamburg gibt es nicht zu deuteln. Doch schon bei den Folgeplätzen beginnt das große Rätseln: Nein, nicht München, Köln, Dortmund oder Leipzig - sondern Gardelegen, Möckern, Zerbst und Wittstock/Dosse. Erstere drei gehören zu Sachsen-Anhalt, wo auch noch Deutschlands zehntgrößte Stadt Jessen liegt, Wittstock zu Brandenburg. Wenn es um die Fläche geht, ist die Provinz zuweilen eben riesengroß.
Möglich wurde das, weil gerade Sachsen-Anhalt das eigentliche Potenzial für Stadtgröße schrittweise abhanden kommt. In keinem Land schlug der demografische Wandel zuletzt härter zu. Also machte die CDU/SPD-Landesregierung in Magdeburg, um in der schrumpfenden Fläche Kosten zu sparen, ab 2011/12 einen rigiden Schnitt: Die Zahl der 1043 selbstständigen Kommunen wurde durch Fusionen auf 219 gesenkt. Die oppositionelle LINKE hatte jene Gemeindegebietsreform ebenso konstruktiv wie kritisch begleitet.
Mithin finden sich Kommunen aus Sachsen-Anhalt unter den hundert flächengrößten deutschen Kommunen nun gleich 21 Mal wieder - jedoch kurioserweise nicht mit der einwohnerstärksten Stadt Halle. Das Land Brandenburg hat sogar 32 Kommunen auf jener Rangliste.
Was zunächst nach Cleverness aussah, offenbart jedoch mit etwas Abstand manche Tücke. Etwa in Gardelegen, Deutschlands drittgrößter Stadt, wo nun auf gut 632 Quadratkilometern - München ist nicht halb so groß - 23 000 Menschen leben. Sie verteilen sich auf die alte Hansestadt sowie 26 weitere Ortsteile, von denen mancher mehr Probleme als Einwohner mitbrachte. Etwa die 225 Bürger von Roxförde: Als sie noch selbstständig waren, wehrten sie sich mit List gegen eine große Putenmast. Doch der Betreiber hatte vom Kreis schon die Bauerlaubnis. Und so klagte er nun bei der Kommune Gardelegen, zu der Roxförde inzwischen gehört, mal eben eine knappe Million Euro für den Ausfall ein. Da die hier natürlich keiner übrig hatte, wollte man im Gegenzug frühere Dorfparlamentarier gerichtlich heranziehen. Als das schief ging, begann der Ausverkauf von Roxförde: Dorfgemeinschaftshaus, Spielplatz, Dorfkrug - alles macht man zu Geld. Selbst das Feuerwehrhaus soll verpachtet werden.
Dennoch müht sich Gardelegen redlich, dem Flächengebilde so gut als möglich eine gemeinsame Identität zu schaffen. So erfasst ein bewusst doppelsinnig betitelter »Kultour-Atlas« nun alle im »Stadt«-Gebiet vorhandenen Einrichtungen, Vereine und Bürgergruppen. Damit will man Kenntnislücken bei den Bewohnern der verschiedenen Ortsteile schließen und alles auf einer Plattform zu bündeln. Selbst einen Dokumentarfilm gab man in Auftrag. Er möge helfen, die neue »Großstadt« und gerade ihre jungen Einwohner einander Nähe zu bringen, um so auch manchen »handwerklichen Fehler« der Gebietsreform auszubügeln, hofft Bürgermeister Konrad Fuchs (SPD).
In anderen Orten hatten Abgeordnete sogar vorm Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalts gegen die Reform geklagt, scheiterten jedoch. Und ein Volksbegehren, das eine landesweite Initiative anschob, starb mangels Beteiligung. Überhaupt scheint Desinteresse die häufigste Reaktion vieler Betroffener in Sachsen-Anhalt zu sein. Das zeigte sich zur Kommunalwahl im Mai, als - auch wegen der neuen Strukturen - 10 200 Mandate zu besetzen waren, darunter 800 Ortschaftsräte eingemeindeter Dörfer: selbst für große Parteien ein Unding.
So etwa auch in Möckern, mehr Dorf als Stadt im Dunstkreis von Magdeburg, wo sich 13 000 Menschen in sogar 67 Ortsteilen verlieren - verstreut über 524 Quadratkilometer. Hier integrierend zu wirken, wurde denn zur Aufgabe für das Land. Also gehört Möckern zu Sachsen-Anhalts Modellregionen im Rahmen des »Integrierten gemeindlichen Entwicklungskonzepts«. Dabei zeigt sich nun, dass die Großräumigkeit nicht nur Einwohnerstrukturen und Standortnachfrage beeinflusst. Auch »enorme Anpassungsprozesse« seien notwendig, da die oft weit voneinander entfernten weit Ortsteile dank gewachsener Identitäten sehr verschieden ticken. Deshalb müssten sie in ihrer »künftigen Entwicklung sehr differenziert« behandelt werden, heißt es in einer Studie.
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