Das Thema offen ansprechen!
Solveig Rebholz berät suizidgefährdete Jugendliche im Internet
Der 10. September ist Internationaler Suizidpräventionstag. Bei der Online-Beratungsstelle »U25« aus Freiburg können sich suizidgefährdete Jugendliche anonym einloggen und von anderen Jugendlichen beraten lassen. Mit Solveig Rebholz, Koordinatorin des Suizid-Präventionsprojektes »U25«, sprach Jörg Oberwittler über das Tabu-Thema Suizid, den »Werther-« und den »Papageno-Effekt« und die Diskussionum aktive Sterbehilfe.
Frau Rebholz, es sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Drogen und Aids zusammen. Wird das Thema in Deutschland unterschätzt?
Suizid ist nach wie vor ein Tabuthema, über das Gesellschaft und Politik nicht gern und dementsprechend leider auch nicht viel sprechen. Hinzu kommt, dass es gerade für die Presse ein sehr heikles Thema ist.
Sie meinen den sogenannten »Werther-Effekt«, also Nachahmungsfälle nach Suizidfällen von Prominenten, über die Medien ausführlich berichtet haben.
Genau. Hier gilt es, die richtige Form der Berichterstattung zu finden. Es gab zum Beispiel einen spürbaren Anstieg der Suizide nach der Selbsttötung des Fußballers Robert Enke. Löblich ist da eine Berichterstattung, in der Medien bewusst Hilfsangebote unter die Artikel schreiben. Dadurch kann es wiederum zum »Papageno-Effekt« kommen...
...benannt nach der Figur aus Mozarts »Zauberflöte«.
Papageno wollte nicht mehr leben, weil sich Papagena nicht für ihn interessierte. Dann kam jemand, der ihm andere Wege aufzeigte und der ihn so vor dem Suizid bewahrte. Natürlich wünschen wir uns, dass die Presse über das Thema berichtet, aber in einer positiven und aufklärerischen Form!
Inwiefern?
Für Männer bis 25 ist es zum Beispiel die zweithäufigste Todesursache. Viele Jugendliche, wenn nicht alle, denken im Zuge ihrer Pubertät über das Thema Sterben nach. In dieser Altersgruppe geht es stark um Autonomie. Man will sich von den Eltern lösen, selber über das Leben entscheiden. Daher sind Suizidgedanken in dieser Lebensphase auch nichts Krankhaftes, sondern normal. Die einen denken nur über Tod, Sterben und Endlichkeit nach - die anderen verfolgen allerdings den Suizid fest mit einem Plan. Diesen Menschen muss geholfen werden.
Sie arbeiten für die Online-Beratungsstelle U25, bei der sich Jugendliche anonym anmelden und beraten lassen können. Was können Sie bei U25 den Teenagern geben, was eine psychotherapeutische Ausbildung nicht leisten kann?
Bei uns sitzt jemand, der gleich alt und damit in einer ähnlichen Lebenssituation ist. Das spricht die Jugendlichen an. Sie möchten bewusst erst mal nicht mit einem Profi sprechen, sondern mit jemandem auf Augenhöhe. Jemand, der weiß, was es bedeutet, im Abi-Stress zu sein oder Ärger mit der Familie zu haben.
Sie haben vor neun Jahren Ihre Ausbildung zur Peer-Beraterin gemacht. Haben sich die Sorgen der Teenager verändert?
Die Sorgen sind nach wie vor die gleichen. Das Spektrum ist sehr breit. Es gibt ganz viele, die einfach überfordert sind von ihrem ganzen Leben. Die auch so eine Art Sinnlosigkeit empfinden. Warum soll ich am Leben bleiben? Wer bin ich? Wo will ich hin im Leben? Wo ist mein Platz in der Welt? Dann gibt es viele Probleme mit der Familie, mit dem sozialen Umfeld. Viele kämpfen auch mit Problemen wie einer Essstörung oder sexueller Gewalt, oder sie werden gemobbt. Das hat sich wenig geändert. Hinzu ist allerdings in den letzten Jahren das Cybermobbing gekommen. Das gab es vor zehn Jahren in der Form noch nicht.
Was waren die extremsten Fälle, in denen Sie an Ihre Grenze gekommen sind?
Das ist immer dann, wenn es um massive Gewalterfahrungen geht. Da gibt es Klienten, die von Beginn ihres Lebens an misshandelt wurden. Das ist immer schwer zu ertragen. Gleiches gilt für sexuelle Gewalt an Kindern.
Gab es auch Fälle, in denen Sie die große Todessehnsucht nachvollziehen konnten?
Sogar recht häufig. Wenn ich mich wirklich in die Person hineinversetze, verstehe ich schon, warum derjenige keinen anderen Ausweg sieht. Aber das Wichtige ist, dass wir den Blick von außen reinbringen und sagen: »Diesen Weg gibts und den nehmen wir dir auch nicht weg!« Wir würden zum Beispiel nie sagen: »Das ist Sünde!« oder »Das darf man nicht!« Wir versuchen stattdessen, die anderen Optionen aufzuzeigen. Die Entscheidung liegt dann immer bei dem Jugendlichen selbst.
Wie sollte man sich als Freund oder Verwandter verhalten, wenn man eine Suizidgefahr bemerkt?
Auf jeden Fall offen ansprechen! Natürlich nicht vor einer großen Gruppe, sondern in einem Vier-Augen-Gespräch. Wir raten immer, den Raum zu eröffnen, über dieses Thema zu sprechen. Denn das ist es, was oft fehlt, und weshalb sich Jugendliche an uns wenden. Sie glauben, mit niemanden in ihrem Umfeld sprechen zu können. Oder sie haben Angst, dann sofort in die Psychiatrie eingewiesen zu werden. Aber oft kann es schon helfen, darüber zu sprechen. Das nimmt den Druck aus der Sache.
Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten, aber aus Nachbarländern kommt das Thema zu uns, sei es aus der Schweiz, den Niederlanden oder aus Belgien. Wie sehen Sie das als Beraterin: Was halten Sie davon, dass Ärzte aktiv beim Sterben helfen dürfen?
Ich bin auf jeden Fall skeptisch und auch nicht dafür, dass es in Deutschland eingeführt wird. Ich glaube, man muss vor allem Angebote schaffen, Hilfe zu bekommen. Wenn ich nur kurz mit jemandem ein Gespräch geführt habe, kann ich doch nicht entscheiden, ob derjenige wirklich keine andere Option hat oder nicht. Das sehe ich sehr kritisch!
Weil möglicherweise vorschnell über Tod und Leben entschieden wird?
Wenn das wirklich auf einem Gespräch basiert, dann ja.
Selbstmorde von Prominenten bringen das Thema immer wieder in die Öffentlichkeit und entsprechend auch die Bereitschaft, sich um das Thema zu kümmern. Ist es ein schlechtes Vorbild gerade für junge Menschen, wenn jemand sein Leben so beendet?
Solche prominenten Suizide lenken nur kurz die Aufmerksamkeit auf das Thema. Das hält aber erfahrungsgemäß nicht lang an. Ob ich das jetzt positiv oder negativ bewerte - darauf kommt es ja auch gar nicht an. Letztlich werde ich immer versuchen, mit der Person eine andere Möglichkeit zu finden.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.