Zahlenspiele der Natur

Vor 400 Jahren entwickelte der schottische Mathematiker John Napier das Konzept der Logarithmen.

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

In der US-Fernsehserie »Das Model und der Schnüffler«, die in den 1990er Jahren auch hierzulande ausgestrahlt wurde, führen die Detektive Maddie Hayes und David Addison oft recht sonderbare Dialoge. Angesichts eines besonders kniffligen Falls fragt David den Assistenten des Gerichtsmediziners, wer wohl der Täter sei. »Keine Ahnung«, antwortet dieser: »Aber wissen Sie, was ich nicht verstehe?« Darauf David: »Logarithmen?« Als Maddie erstaunt aufblickt, fasst David nach: »Was? Hast du die etwa verstanden?«

Diese Episode zeigt eindrucksvoll, in welch schlechtem Ruf die Logarithmen weithin stehen. Vor allem für Schüler ist die Rechenmethode mit dem exotischen Namen ein Horror. Denn die zu erlernen, gilt nicht nur als extrem schwierig, sondern im Computerzeitalter auch als pure Zeitverschwendung. Hinzu kommt, dass kaum ein Schüler ahnt, welche große praktische Bedeutung die Logarithmen haben.

Als deren Erfinder gilt gemeinhin der schottische Gelehrte John Napier (1550-1617), der zu Lebzeiten vor allem als protestantischer Theologe wirkte. Dabei stempelte er den Papst zum Antichristen und erklärte, dass ab 1688 das Jüngste Gericht zu erwarten sei. Auf seinem Landsitz nahe Edinburgh erprobte Napier aber auch verschiedene Düngemittel und erfand neue Kriegswaffen, die jedoch nie zum Einsatz kamen.

1614 vollbrachte Napier seine größte Leistung. In einem Buch mit dem Titel »Mirifici logarithmorum canonis descriptio« beschrieb er »den wunderbaren Kanon der Logarithmen« und veröffentlichte die erste Logarithmentafel, die rasch Anwendung in Schifffahrt und Astronomie fand. Dank der Logarithmen, so Napier, könnten sich die Mathematiker von den »schlüpfrigen Irrtümern« befreien, die bei Multiplikationen, Divisionen und dem Wurzelziehen großer Zahlen fast unvermeidlich seien. Einer der ersten Nutzer der Logarithmen war Johannes Kepler, der bekanntlich zahllose Rechnungen durchführen musste, um zu den Gesetzen der Planetenbewegung zu gelangen. 1619 schrieb er sogar einen Dankesbrief, der Napier aber nicht mehr erreichte. Denn dieser war zwei Jahre zuvor an den Folgen der Gicht verstorben. Bliebe noch zu erwähnen, dass unabhängig von Napier auch der Schweizer Uhrmacher Jost Bürgi das Konzept der Logarithmen entwickelte. Seine erste Logarithmentafel erschien allerdings erst 1620.

Zur Erklärung dessen, was Logarithmen sind, sei der Einfachheit halber hier nur der dekadische oder Zehner-Logarithmus angeführt. Der dekadische Logarithmus einer positiven Zahl a ist der Exponent b, mit dem sich die Zahl a als Zehnerpotenz darstellen lässt. Oder algebraisch ausgedrückt: Wenn a=10b, dann ist b der Logarithmus (lg) von a. Also gilt: lg 10=1 (weil 10=101), lg 100=2 (weil 100=102) usw.

Der Logarithmus einer Zehnerpotenz lässt sich leicht finden. Schwieriger wird es, wenn man etwa nach dem Logarithmus von 6 fragt. Aus einer Tafel können wir den Wert entnehmen: 0,778. Das heißt, wenn man die Zahl Zehn 0,778-mal mit sich selbst multipliziert, erhält man 6. »Natürlich ist diese Vorstellung unsinnig, wenn wir darüber nachdenken, wie das in der wirklichen Welt funktionieren könnte«, schreibt der US-Mathematiker Alex Bellos: »Aber die Kraft und Schönheit der Mathematik liegt gerade darin, dass wir uns mit einer Bedeutung, die über die algebraische Definition hinausgeht, gar nicht beschäftigen müssen.«

Die ungeheuren Erfolge des Logarithmenkonzepts bestätigen dies. Zu nennen wäre hier vor allem, dass man mittels Logarithmen das oft schwierige Punktrechnen (Multiplikation, Division) in das einfachere Strichrechnen (Addition, Subtraktion) überführen kann. Das wiederum gab den Anstoß zur Konstruktion eines Geräts, das bis vor wenigen Jahrzehnten noch jeder Ingenieur und Architekt benutzte. Gemeint ist der Rechenschieber, der bereits 1620 von dem englischen Mathematiker Edmund Gunter erfunden wurde und auf dem Prinzip der Addition und Subtraktion von Logarithmen beruht.

Nicht minder bedeutsam für die Wissenschaft ist die logarithmische Skala, die statt der gemessenen Werte einer Größe deren Logarithmen anzeigt. Die Skala hat deshalb eine besondere Eigenschaft: Je größer hierauf die Zahlen sind, desto mehr nähern sie sich einander an. Wobei der jeweils nächsthöhere Zahlenwert eine zehnfache Vergrößerung des vorherigen darstellt. Auf der Richterskala zum Beispiel löst ein Erdbeben der Stärke 7 eine Amplitude aus, die zehnmal höher ist als bei einem Beben der Stärke 6.

»Logarithmen sind ein wunderbares Komprimierungsinstrument von großen Quantitäten«, betont der Harvard-Mathematiker Steven Strogatz. So ist etwa der Abstand zwischen 100 und 100 Millionen für Menschen nicht mehr vorstellbar. Dagegen differieren die Logarithmen beider Zahlen nur um ein Vierfaches (lg 100=2 und lg 100 000 000=8). Das hat den Vorteil, dass auch Veränderungen, die sich über viele Größenordnungen erstrecken, in logarithmischer Darstellung gut zu erkennen sind.

Ohnehin geht es in der Natur vielerorts logarithmisch zu. So folgt beispielsweise das Wachstum von Schneckenhäusern einer logarithmischen Spirale. Ähnliches gilt für die Anordnung der Kerne in einer Sonnenblume. Der pH-Wert, der in der Chemie den sauren bzw. basischen Charakter einer wässrigen Lösung angibt, ist definiert als negativer Logarithmus der Wasserstoffionen-Aktivität. Aber auch viele Wachstums- und Abbauprozesse lassen sich durch logarithmische Gleichungen modellieren, etwa der radioaktive Zerfall.

Eine erstaunliche Entdeckung machten 2004 die US-Psychologen Robert Siegler und Julie Booth. Sie baten Kindergartenkinder und Zweitklässler, die Zahlen von 1 bis 10 auf einem Zahlenstrahl anzuordnen. Während die Zweitklässler eine lineare, sprich gleichmäßige Abfolge wählten, ordneten die Kindergartenkinder die Zahlen logarithmisch an. Das ist keineswegs abwegig. Denn stellt man sich die Zahlen als Punktmengen vor, sind 5 Punkte fünfmal so viel wie ein Punkt, während 10 Punkte nur zweimal 5 Punkte darstellen. Vorschulkinder lassen daher zwischen größeren Zahlen intuitiv weniger Platz. Hiervon ausgehend vermuten die Forscher, dass der lineare Zahlenstrahl eine kulturelle Erfindung ist. Das heißt, ohne mathematische Ausbildung würden vielleicht auch Erwachsene die Zahlen im Geiste logarithmisch ordnen.

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