Hintermänner von Boko Haram sind bekannt
Stephen Davis, ehemaliger Regierungsberater Nigerias, über Hintergründe zum Schicksal der entführten Mädchen
Bis vor wenigen Monaten wusste man wenig über die afrikanische Terroristengruppe Boko Haram. Aber eigentlich ist die Situation in Nigeria so neu nicht.
Nein. Ich stehe seit Jahren mit Rebellen und Boko-Haram-Führern in Kontakt, nachdem ich als Berater für zwei nigerianische Präsidenten gearbeitet habe. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich auch mit Nigerias amtierenden Präsidenten Goodluck Jonathan zusammengearbeitet, um die Friedensverhandlungen voranzutreiben. Doch durch die mangelnde Unterstützung des Militärs und der Sicherheitschefs sind viele Boko-Haram-Führer wieder aus den Verhandlungen ausgestiegen. Boko-Haram-Kommandeure haben mir erklärt, dass nach der Hinrichtung des früheren Boko-Haram-Chefs Mohammed Yusuf 2009 der neue Führer Abubakar Shekau anfing, vom Heiligen Koran abzuweichen. Er war es, der begann, Frauen und Kinder zu entführen und Menschen zu köpfen. Die Köpfungen passieren schon seit zwei Jahren, sie sind nur nicht in den Medien berichtet worden wie die aktuellen IS-Fälle.
Wie groß ist Boko Haram?
Die Gruppe hat inzwischen eine stattliche Größe. Es gibt 4200 bis 4500 Kämpfer in sechs oder sieben größeren Camps in Nigeria, Niger, Tschad und Kamerun, sowie nahe stehende Gruppen an Kämpfern im Sudan, im südlichen Ägypten und seit einigen Wochen auch in Benin.
Wie sind Sie dazu gekommen, im aktuellen Entführungsfall der 200 Mädchen zu verhandeln?
Ich bin im April privat nach Nigeria gereist, zehn Tage, nachdem die Chibok-Mädchen entführt wurden. Ich konnte nicht glauben, wie man mehr als 200 Mädchen entführen und dann einfach verschwinden konnte. Man hätte so viele Männer und Fahrzeuge gebraucht, um die Mädchen zu transportieren, einen ganzen Konvoi. Trotzdem wusste niemand, wo sie waren. Ich rief schon von Australien einige Leute an und fand Boko-Haram-Führer, die sagten: »Ja, wir wissen, wo die Mädchen sind.« So hoffte ich, dass ich verhandeln könnte.
Die Mädchen sind im April entführt worden. Wie ist ihre Lage?
Von den 270, die entführt wurden, konnten etwa 50 sofort flüchten - entweder von der Schule oder während des Transfers in die Camps. Aber die Entführungen passieren bereits seit über einem Jahr und es sind noch weitaus mehr entführt als die Mädchen aus Chibok. Ich schätze, es sind insgesamt 500 bis 600 Mädchen, die aus Dörfern und Bussen entführt wurden, die die Boko-Haram-Terroristen stürmen. Sie erschießen dann alle Männer und nehmen die Mädchen und einige Jungen gefangen. Im Falle der Jungen zwingen sie sie, als Fahrer zu arbeiten oder sie zwingen sie, ihre eigenen Verwandten, ihre Mütter und Schwestern zu erschießen, um sie zu willigen Kindersoldaten zu machen.
Wie werden die entführten Mädchen in den Camps behandelt?
Einige der Mädchen sind gestorben oder sind krank. Die anderen sind auf mehrere Camps in Nigeria und den Nachbarländern aufgeteilt worden. Wir sprechen hier von einfachen Camps ohne permanente Strukturen mit einer kleineren Anzahl an Kämpfern. Die Mädchen sind nur für die Kämpfer entführt worden und werden jeden Tag vergewaltigt.
Sie waren insgesamt vier Monate in Afrika, sind aber jetzt nach Australien zurückgekehrt. Gibt es keine Hoffnung mehr für die entführten Mädchen und Jungen?
Ich musste einsehen, wenn ich es schaffen würde, 20 Mädchen zu befreien, dass sie losgehen und 40 andere an ihrer Stelle entführen und dabei 80 bis 100 Menschen in einem Dorf ihr Leben bei dem Angriff verlieren würden. Dadurch habe ich verstanden, dass wir die Geldgeber erwischen müssen und ich mich an die Öffentlichkeit wenden muss.
Sind die Geldgeber und Hintermänner bekannt?
Ja, es handelt sich hauptsächlich um höhere Politiker und Strippenzieher, die bei den Wahlen in Nigeria 2015 an die Macht kommen wollen. Darunter sind beispielsweise der frühere Gouverneur des Staates Borno, Alhaji Modu Sheriff, ein Mann aus Ägypten, der die Uniformen und die Munition zur Verfügung stellt und ein weiterer aus dem Finanzbereich. Wenn diese Geldgeber verhaftet würden, dann würden einige Boko-Haram-Führer aufgeben und sich stellen. Nicht alle Boko Haram Kommandeure wären natürlich so leicht zu demobilisieren. Um mit den Schlächtern fertig zu werden, braucht es eine militärische Operation und zwar bevor sie sich mit dem Islamischen Staat und der Shabab, dem militanten Flügel der somalischen Union Islamischer Gerichte, die Verbindungen zur Al Qaida haben.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.