Reichtum macht nicht glücklich

Warum weniger Ungleichheit für alle gut wäre

  • Robert Misik
  • Lesedauer: 6 Min.

Wenn ein Buch so einschlägt wie Thomas Pikettys monumentales »Capital in the 21st Century«, dann liegt das meist nicht allein an seiner Qualität, sondern daran, dass »die Welt« offenbar darauf gewartet hat, was präziser formuliert heißt: dass das diskursive Feld bereitet ist, ohne das es seine Wirkung nicht entfalten könnte. Dieses Buch, so pries Nobelpreisträger Paul Krugman, werde »die Wirtschaftswissenschaft verändern«. Und der linksliberale Essayist Will Hutton sekundiert im Guardian: »Man muss in die 1970er zu Milton Friedman zurückgehen, um einen Wirtschaftswissenschaftler zu finden, der einen solchen Einfluss ausübte.«

Will man Pikettys Studie flott zusammenfassen, so können wir so formulieren: Sie zeigt, dass über weite Strecken im Kapitalismus (und verschärft in den vergangenen dreißig Jahren) die Ungleichheit anwächst und somit »Ungerechtigkeit« zunimmt; und sie zeigt zweitens, dass das zu einer wachsenden Instabilität des Systems beiträgt.

Nun ist Ungleichheit nicht notwendig identisch mit Ungerechtigkeit. Welche Form von Verteilung »gerecht« sei, ist stets umstritten. Totale Gleichverteilung könnte man als gerecht ansehen - Isaiah Berlin, der große politische Theoretiker beschrieb ja mit dem Tortengleichnis, dass Gleichverteilung per se als gerecht angesehen wird, also keiner weiteren Argumente bedarf. Wenn ich beim Kindergeburtstag allen gleich große Stücke zuteile, brauche ich keine weitere Begründung. Will ich beim Mittagstisch ungleich verteilen, kann das auch gerecht sein, ich brauche dafür aber Begründungen von der Art: Papa bekommt mehr, denn der arbeitet so hart; oder das Kind bekommt mehr, das muss noch wachsen.

Ungleichverteilung kann durchaus auch als »gerecht« angesehen werden. Genau darauf reiten diejenigen ja herum, die »Marktergebnisse« per se als gerecht rechtfertigen. Jeder lebt nach eigenen Präferenzen, die einen machen diese Ausbildung, die anderen jene, die dritten gar keine, manche sind fleißig, manche wollen eher ein bequemes Leben - und daraus folge dann eben eine Ungleichverteilung, die durchaus gerecht sei. Die Marktadoranten gehen aber noch einen Schritt weiter: Marktverteilung sei ja keine Zuteilung (niemand verteilt die Tortenstücke), sondern Ergebnis eines subjektlosen Mechanismus.

Also so etwas wie Glück und Zufall: Wenn der eine im Lotto gewinnt, der andere nicht, ist das ja auch nicht ungerecht, ungerecht wäre nur, wenn ein Minister bestimmt, wer im Lotto gewinnt und wer verliert. Aus dieser Perspektive sind Marktergebnisse immer »gerecht«. Demgegenüber muss natürlich eingewandt werden, dass die Marktwirtschaft keine Marktwirtschaft in diesem Sinn ist, sondern eine »Machtwirtschaft«: Wer hat, dem wird gegeben. Wer wirtschaftliche Macht hat, bestimmt die Regeln des Spiels. Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Weswegen also grobe Ungleichverteilung eben auch ungerecht sei. Und ein Mehr an Gleichverteilung (wenngleich nicht unbedingt totale Gleichverteilung) eben auch gerechter wäre.

Nun würde die neoklassische ökonomische Theorie an dieser Stelle einwenden, dass von solcher Gerechtigkeit niemand etwas habe: Administrative Umverteilung von Oben nach Unten mache die Wirtschaft als ganzes weniger prosperierend und am Ende hätten alle weniger. Es gäbe zwar weniger Ungleichheit, aber auf niedrigerem Niveau. Die Gerechtigkeit würde sich, wenn das stimmte, zwar möglicherweise als gerecht, aber kontraproduktiv erweisen.

Die Pointe von Pikettys Studie und von Untersuchungen anderer, die man grosso modo der »neokeynesianischen« Schule zuordnen kann (Krugman, Stiglitz uva.), ist aber nun gerade, dass mehr Gleichheit nicht nur gerechter wäre, sondern auch ökonomisch nützlich ist. Eine egalitäre Verteilung stabilisiert die Ökonomie, auch unter den Bedingungen einer kapitalistischen Marktwirtschaft: Sie stärkt die Binnennachfrage, führt zu stabilerem Wachstum, sie führt auch dazu, dass mehr Menschen aus ihrem Leben etwas machen und ihre Talente entwickeln können (das führt zu höherer Produktivität), sie stärkt auch die Arbeitszufriedenheit usw. Krasse Ungleichverteilung führt nicht nur zu niedrigerem Wachstum (und damit geringeren Renditechancen in der Realwirtschaft), sie zieht auch einen Exzess an Reichtum und Verschuldung nach sich, die Jagd nach Spekulationsprofiten und macht Finanzkrisen daher wahrscheinlicher. Mehr Gleichheit ist also ökonomisch nützlich - sogar innerhalb der kapitalistischen Logik.

Aber das ist noch nicht das Ende vom Lied. Viele soziologische Studien in den vergangenen Jahren haben den Beweis erbracht, dass in auf ökonomischer Gleichheit basierenden Gesellschaften auch die allgemeine Lebenszufriedenheit nahezu aller Bürger und Bürgerinnen größer ist. Salopp gesagt: In egalitären Gesellschaften sind alle glücklicher, in ungleichen Gesellschaften sind alle unglücklicher - sogar die Reichen. Schon Richard Layard hat in seinem Buch »Die glückliche Gesellschaft« unterstrichen, »dass die Menschen heute nicht glücklicher sind als vor 50 Jahren. Und das, obwohl sich das reale Durchschnittseinkommen in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt hat«.

Wenn der Reichtum einer Gesellschaft wächst - also das Nationaleinkommen pro Kopf -, aber mit ihm auch die Ungleichheit, dann werden die Menschen oft sogar unglücklicher. Denn dann setzt ein »Statuswettlauf« ein, und »wir fühlen ein großes Bedürfnis, mit anderen mitzuhalten«. Richard Wilkinson und Kate Pickett haben in ihrem bahnbrechenden Werk »Gleichheit ist Glück« mit einer Fülle an Fakten aus rund 200 internationalen Datensätzen gezeigt, dass in Gesellschaften mit groben Ungleichheiten die Menschen im Durchschnitt unglücklicher sind. Gewiss sind auch in diesen Gesellschaften die Reichen glücklicher als die Armen, aber es sind in jedem Einkommenssegement die Menschen unglücklicher als in egalitären Gesellschaften. Also: In Gesellschaften, die schroff in reich und arm gespalten sind, sind die Reichsten keineswegs besonders glücklich, im Gegenteil. Kurzum: Der Egoismus ist sogar für die Egoisten unkomfortabel.

Die Autoren stützen sich nicht nur auf sanfte Parameter wie »subjektive Lebenszufriedenheit«, sondern vor allem auf harte Lebensqualitätsparameter wie Lebenserwartung, Krankheitsrisiko, psychische Probleme, Gewaltkriminalität, Fettleibigkeit, Teenagerschwangerschaften, soziale Mobilität etc. Ungleichheit setzt alle unter Stress, die auf den unteren Sprossen der sozialen Leiter zahlen freilich den mit Abstand höchsten Preis. Deklassiertheit, Unterprivilegiertheit, materieller Mangel, gestörte soziale Beziehungen, kulturelle Abgehängtheit, Respektlosigkeit - all das grassiert in Gesellschaften mit krassen und wachsenden Ungleichheiten.

Wenn die Gewinner in solchen Gesellschaften uns glauben machen wollen, Ungleichheit sei funktional für Prosperität, weil sie eben Leistung belohne, dann übersehen sie gerne die Kosten, die sie einer Gesellschaft damit aufbürden. Wer in einer Gesellschaft mit verschärfter Statuskonkurrenz unten ist, der fühlt sich erniedrigt. Depraviertheit und Abgehängtheit macht psychisch krank. Die sozialstaatliche Garantie des existenziellen Minimums kann daran nicht viel ändern. Wer Unten ist, wird täglich gemobbt, ist Respektlosigkeit ausgesetzt, Ziel fortwährender Kränkungen, ist zum Loser gestempelt, wird zum Opfer, und das heißt auch: hat keinen Subjektstatus mehr, ist nur mehr Objekt sozialarbeiterischer Verwaltung. Wenn viele Menschen täglichen Demütigungen ausgesetzt sind, dann verrotten Gesellschaften von innen.

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