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Viele machten rüber, einige schliefen
Elke Bitterhof wollte von ost- und westdeutschen Prominenten wissen, was sie am 9. November vor 25 Jahren taten
Was hast du am 9. November 1989 getan? Das ist wohl die am häufigsten den Deutschen, immer und immer wieder, gestellte Frage, vornehmlich von Medienvertretern. Das schreckte Elke Bitterhof nicht. Die TV-Moderatorin, einst Mitglied des legendären Oktoberklubs der FDJ, wollte von ost- wie westdeutscher Prominenz wissen, wie sie die welthistorisch einmalige Nacht erlebten. »Verschlafen? Gefeiert? Gesungen? Gepredigt?«
Dass Angela Merkel in der Sauna schwitzte, gehört mittlerweile zum Allgemeinwissen. Und oft genug vernahm man vom Blues-Messe-Pfarrer a. D. Rainer Eppelmann, dass er zu den Ersten an der Bornholmer Straße gehörte. Seine Amtsschwester Margot Käßmann aus Hessen saß in einem Schweizer Hotelzimmer und war fassungslos: »Mein Gedanke war: Das gibt es doch nicht! Du sitzt in Genf und verpasst, was da passiert.« Die Pastorin, die dereinst gern mit ein paar Farbeimern der DDR zu einem fröhlicheren Aussehen verholfen hätte, wäre am liebsten sofort nach Westberlin gedüst, musste jedoch eine Weltversammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung vorbereiten.
Gregor Gysi schlief, als seine damalige Lebensgefährtin anrief: »Gregor, die Mauer ist auf!« Der Mann, dessen Initiale für das Grundgesetz stehen, verbat sich solche Scherze nachts um zwei. Überzeugte sich dann jedoch von der Wahrheit, wollte aber nicht rüber, weil er nicht »gern in Massen geht« und zudem am nächsten Tag eine Gerichtsverhandlung hatte: »Ich blieb im Bett.« So war GG am 10. November ausgeschlafen, im Gegensatz zu den Schöffen.
Auch Daniel Barenboim verschlief die »Wahnsinns«-Nacht. Nach konzentrierten Proben mit den Berliner Philharmonikern war er müde. »Erst am nächsten Morgen las ich in der Zeitung von der Maueröffnung.« Es war ihm »eine besondere Ehre und Freude, ja, ein Privileg«, das sogenannte Mauerkonzert am 12. November zu dirigieren, zu dem Ostberliner freien Eintritt hatten. Peter Kahane, Sohn des ehrenwerten Spanien- und Résistancekämpfers und späteren Auslandskorrespondenten des »Neuen Deutschland« Max Kahane, hat am 9. November auf dem Berliner Alexanderplatz die Schlusssequenz der »Architekten« gedreht, einen Film, »der helfen sollte, das Land DDR zu ändern«. Als er spät daheim aus dem Flimmerkasten erfuhr, was geschah, weckte er die Söhne: »Aber die mochten nicht aufstehen.«
Elke Bitterhof hat sich auch Hans-Dietrich Genscher geangelt. Der verliert zwar kein Wort über den 9. November ’89, erinnert sich dahingegen an - jawohl - die Balkonszene mit Tausenden deutschdemokratischen Romeos und Julias in Prag, an »die unvergessliche Stunde, in der mich Glücksgefühle, Dankbarkeit und Demut in gleicher Weise erfassten. Aber auch die tiefe Ahnung, dass nichts mehr so sein würde, wie es war.« Schauspieler Henry Hübchen erfährt vom Massenansturm an den Grenzübergängen in der Theaterkantine der Volksbühne in Berlin-Ost. Da er am nächsten Abend in Köln den König Claudius, Hamlets Onkel, mimen musste, fuhr er noch in der Nacht los: »Als ich mich der Grenze bei Magdeburg näherte, die nachts immer vollkommen verwaist war, traf ich auf eine lange Autoschlange ... Mein erster und letzter Gedanke an diesem 9. November kurz vor Mitternacht: Hier stehst du bis in die Puppen.« Wie er stand auch Uwe Steimle am 9. auf Brettern, die die Welt bedeuten, im Berliner Metropol: »Für mich war schlagartig klar, das ist das Ende des Sozialismus, jetzt brechen alle Dämme.« Das sympathisch offene Bekenntnis des Kabarettisten: »Ich wollte, und das will ich auch heute noch, eine Gesellschaft mit menschlichem Antlitz.« Um sodann festzustellen, nunmehr »in einem Rechtsstaat, mit sehr viel Ungerechtigkeit« zu leben.
Christian Liebig spielte mit Karat an jenem Tag ein Album im Amiga-Studio ein. Als die DDR-Rocker nachts gegen ein Uhr die Aufnahme glücklich beendet hatten, waren sie »alle ziemlich kaputt« - zu matt für einen grenzenlosen Spaziergang. Emöke Pöstenyi vom berühmten, in Ost und West bestaunten DDR-Fernsehballett verdankte dem Bau der Mauer 1961 ihre glänzende Karriere. Denn: »Es fehlten, von heute auf morgen, die Tänzer, die in Westberlin wohnten.« Die gebürtige Ungarin stand 39 Jahre auf der Bühne, als Solistin, als Duo »Susan und Emöke«, als Choreographin und künstlerische Leiterin. Ihr bitteres Fazit: »In einem kleinen Land, das immer knapp bei Kasse war, gab es seit 1976 eine besondere Rente für die Tänzer ... Die Sache ist bei der deutschen Vereinigung unter den Verhandlungstisch gefallen.«
Dirk Rossmann wirkt hier fehlplatziert. Der Drogerist und Freund von Steuerbetrüger Hoeneß weinte, als die Mauer fiel - wohl aus Vorfreude auf die kommenden 900 Filialen in Ostdeutschland. Und was prädestinierte Plakatemillionär Daniel Wall für das Buch? Weil sein Name im Englischen Mauer heißt? Oder er mit seinem Vater in jener Nacht den Betonwall am Brandenburger Tor erklomm? Und Daddy Hans Wall später mit der Stieftochter des HVA-Chefs Markus Wolfs verheiratet war? Wie auch immer, Elke Bitterhof hatte ansonsten eine recht glückliche Hand bei der Auswahl ihrer Gesprächspartner, darunter auch Oscar-Gewinner Wim Wenders, BAP-Sänger Wolfgang Niedecken und Verleger Christoph Links. Man kann nachfühlen, wie viel Mühe, Kraft und Zeit es der Herausgeberin gekostet hat, rumzutelefonieren und durchs weite Land zu fahren, um die Zeitzeugen aufzusuchen. Und man dankt für den Tipp: »Käsekuchen lockert die Zunge.«
Ich stand am 9. mit Kleinkind auf dem Arm auf einem Balkon in der Wisbyer und wunderte mich, wie viele Autos und Menschen diese in die Bornholmer mündende Straße zu fassen vermochte. War aber am nächsten Morgen in der Redaktion viel mehr überrascht, ausgerechnet vom Parteisekretär, der Tage zuvor noch unsere Sekretärin agitiert hatte, was sie denn auf dem »schmutzigen Ku’damm« wolle, nun zu hören, wie er mit der ganzen Familie nächtens »sofort rüber machte«; auch der Sohn musste mit, trotz Gipsbein: »Das hing dann aus dem Trabifenster.«
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