»Mich reizt das Unmögliche«
Maxim Gorki Theater: Lola Arias inszeniert die Wende in der DDR
Lola Arias, Sie haben etwas sehr Ungewöhnliches vor, ein Nachstellen von historischen Massensituationen in der Wendezeit auf öffentlichen Plätzen. Geht das überhaupt?
Nein, eigentlich ist das unmöglich. Wie will man all die Situationen wieder herstellen, nach welchen Kriterien die Leute aussuchen? Welche Gesichter von den historischen Aufnahmen wählt man aus? Welche Momente, welche Parolen? Das ist unmöglich. Aber mich reizt das Unmögliche. Und dann geht es auch nicht um das korrekte Herstellen der Situation. Mich interessiert vor allem die doppelte Perspektive, unser heutiges Wissen um die damaligen Ereignisse, als etwas Großes und Wichtiges geschah, und das gleichzeitige Wiedererfahren oder Neuerfahren dieser Situationen. Es werden auch Leute zum Projekt eingeladen, die vor 25 Jahren vielleicht noch gar nicht geboren waren.
Wie ist das Projekt entstanden?
Es beruht auf meinem Interesse für Auditions, für Vorsprechsituationen. Ein Vorsprechen hat etwas von einem Interview, aber es ist mehr. Es ist nicht so, dass da jemand aus dem Nichts für dich eine Vorstellung gibt. Aber man sieht die Personen nicht nur sprechen, sondern mit ihrem Körper agieren. Und dieses Interesse für Vorsprechen als eine theatrale Situation war auch gemischt mit Überlegungen, wie man eine Demonstration als einen theatralen Moment verstehen kann.
Das Festival »Voicing Resistance« im Maxim Gorki Theater stellt diverse Formen von Widerstand vor. Die argentinische Regisseurin, Autorin und Performerin Lola Arias nimmt sich dabei die jüngste deutsche Geschichte vor. Sie interessiert, wie es im Herbst 1989 zu den Demonstrationen kam, die dem Mauerfall vorangingen. Zu diesem Zweck stellt sie sie mit Freiwilligen einfach nach. Eine ganz besondere Art, historische Momente zu erspüren und den eigenen Drang nach Veränderung zu befragen. »Audition for a Demonstration« findet am 9. November im Maxim Gorki Theater statt. Tom Mustroph traf die Künstlerin zuvor zum Gespräch.
Das gilt dann vor allem für das Publikum, das eine Demonstration als eine Performance wahrnehmen kann?
Nicht nur. Natürlich werden Demonstrationen als Massentheaterevents wahrgenommen. Man steht, man geht, man ruft Parolen. Man bereitet sich aber auch darauf vor, wählt vielleicht besondere Kleidung aus, fertigt Transparente an mit der Botschaft, die man vermitteln will. Und vor allem agiert man.
Mit wie vielen Teilnehmern rechnen Sie?
Ich habe keine Ahnung. Es kann sein, dass wir es mit drei Leuten machen, es können aber auch 300 kommen. Ich hoffe vor allem darauf, dass es sich nicht nur um das klassische Theaterpublikum handelt, sondern auch um normale Bewohner der Stadt, die sich an die historischen Momente erinnern und sie jetzt wieder erfahren. Es soll ein kollektiver Akt sein.
Ist historische Kenntnis nötig?
Ich finde eine große Bandbreite reizvoll. Menschen, die diese Momente erlebt haben, Leute, die ganz viel wissen, aber auch Leute, die vielleicht erst vor kurzem in den Stadt gekommen sind. Ich bin Argentinierin und in der damaligen Militärdiktatur meines Landes aufgewachsen. Ich weiß, in welchem historischen Kontext ich mich hier bewege, aber ich habe es nicht selbst erlebt. Diese Distanz ist für mich reizvoll. Es kommt mir auch darauf an zu erfahren, was im kollektiven Gedächtnis noch an Bildern erhalten ist. Ist es die Tatsache, dass Bananen verteilt wurden? Oder ist etwas anderes präsent? Ich habe diese Art von Projekten schon mehrfach gemacht. In Argentinien etwa mit Kindern, die das Leben ihrer Eltern während der Militärdiktatur nachgespielt haben. Oder mit Obdachlosen in Bremen, die ihr Leben reinszenierten, das sie hatten, bevor sie auf der Straße waren.
In welcher Form findet das Vorsprechen für die Demo statt?
Das geschieht individuell. Jeder Teilnehmer hat die Möglichkeit zu entscheiden, in welcher Form er an der Demonstration teilnehmen will. Welche Symbole möchte er tragen? Möchte er Teil der Menge sein oder auch eine der Reden halten, die bei der Großdemonstration am 4. November gehalten wurden? Jeder Teilnehmer reflektiert dabei auch über seine Position und das, was er sagen will.
Sie sind zur Zeit der Militärdiktatur in Argentinien aufgewachsen. Wie sieht Ihre Perspektive auf die DDR aus? War es nur eine softere Diktatur?
Beides ist nicht vergleichbar miteinander. Die Militärs haben in Argentinien die Macht an sich genommen, um revolutionäre Bewegungen, wie es sie in ganz Lateinamerika gab, zu verhindern. Wir wollten damals so etwas haben, was Ihr in der DDR hattet. Kommunistische und sozialistische Ideale waren in den 70ern sehr präsent in unseren Guerrilla-Bewegungen und bei den Linken allgemein. Das wurde von der Militärregierung alles unterdrückt. Daher ist es für mich sehr interessant zu sehen, was aus all diesen Ideen wurde, als sie sich zu einem System fügten, sich dabei veränderten und selbst zu einem Unterdrückungssystem mutierten.
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