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Hier bin ich geboren

Mawils Graphic Novel »Kinderland« findet wunderbare Bilder, um das Ende der DDR mal ganz anders zu erzählen

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 6 Min.
Markus Witzel alias Mawil lässt wie aus dem Nichts aus den letzten Tagen vor dem Mauerfall lauter Dinge auftauchen, die in der unaufgeräumten Rumpelkammer, die das Gedächtnis ist, seit Jahren verloren gegangen waren.

Die Geschichte, die Markus Witzel, Künstlername Mawil, in seiner Graphic Novel »Kinderland« erzählt, ist in wenigen Sätzen wiedergegeben. Aber damit wäre nichts darüber gesagt, warum dieses tolle Buch, wenn schon nicht von magischen Kräften, dann doch von erstaunlichen Fertigkeiten auf dem Gebiet der suggestiven Zaubertrickserei zeugt. Wie sonst wäre es denn möglich, dass mir ein Künstler, dem ich im Leben nie begegnet bin, prägende Momente meiner ureigenen Kindheit vor Augen führt, ausgefeilt bis ins kleinste Detail? Dass er wie aus dem Nichts lauter Dinge auftauchen lässt, die in der unaufgeräumten Rumpelkammer, die das Gedächtnis ist, seit Jahren verloren gegangen waren?

Dabei geht es recht banal los. Erste Seite, erstes Bild: Schnatterinchen, Pittiplatsch, Sandmännchen-Plüschpuppe in einem morgenrotverdunkelten Kinderzimmerregal. Gähn! Aber schon einen Augenblick später erwacht die Ahnung, dass man sich hier keineswegs in einem papiernen Ostalgie-Souvenirgeschäft befindet, das die DDR auf die immergleichen Null-acht-fuffzehn-Accessoires reduziert. Auf einem Schreibtisch schlummert ein Mosaik-Heft, auf dem eine dieser papierumwickelten Flachbatterien steht. Das Glühlämpchen, das darauf festgebunden ist, um es auf wundersame Weise zum Leuchten zu bringen – habe nicht ich es dort angebracht? Der Gummiindianer mit dem gespannten Bogen, der Cowboy mit dem Revolver, scheinbar nur Beiwerk auf Mawils Bildern – aber sofort beginnt die Erinnerungsmaschine zu rattern: Ich weiß wieder genau, wie ich diesem Wild-West-Mann seine Waffe mit meiner Kinderschere abschnitt, um den pazifistischen Eltern meine Friedfertigkeit selbst beim Kriegsspiel zu demonstrieren.

Und so geht es Bild für Bild weiter; lauter Details im Hintergrund, die womöglich glatt übersehen werden von Lesern, die damit nichts verbinden: die plastegerahmte Schiebetafel mit den Zahlenquadraten, die es in die richtige Reihenfolge zu bringen galt. Der Schlumpf im Regal und das Alf-Plakat an der Kinderzimmertür (neben der Olsenbande). Na klar, der Westen war 1989 für einen 13-jährigen Thälmannpionier in der Hauptstadt der DDR zwar einerseits unerreichbar, aber das hieß ja nicht, dass er nicht längst zu uns gekommen wäre in Gestalt von Fernsehsendungen, gebrauchtem Spielzeug der Westcousins und von Oma mitgebrachtem Tünnef. Nur hätte kaum einer gedacht, dass dieser heiß begehrte Plunder sich wenig später als Vorbote des vor der Tür lauernden Kapitalismus entpuppen würde, nur darauf lauernd, seine Klauen auszufahren und über uns herzufallen.

Mawil wurde, so wie ich, 1976 in Ostberlin geboren. In »Kinderland« lässt er die letzen Tage vor dem Mauerfall aus der Perspektive seines Helden Mirco Watzke Revue passieren – die Ähnlichkeit mit dem Namen des Zeichners, Markus Witzel, ist genauso wenig zufällig wie dessen Idee, die strebsame Gruppenratsvorsitzende mit dem akkurat gebundenen roten Halstuch ausgerechnet Angela Werkel zu nennen. Hauptsächlich in Bildern erzählt wird die trotz der dadurch ausgelösten Erinnerungslawine eigentlich sehr spezifische Geschichte dieses klein gewachsenen, schüchternen Jungen an der Schwelle zum Erwachsensein.

Auf dem Schulhof hat sich der Siebtklässler der Lästereien und Handgreiflichkeiten der Großen zu erwehren, deren halbstarkes Rocker-Outfit von gehöriger Distanz zum »System« kündet. Gleichzeitig macht eine Pionierleiterin den Kindern das Leben schwer, die schon von ihrer Statur her unschwer als Apparat von Frau zu erkennen ist. Auf einem Bild ertappt der aufmerksame Betrachter diese Frau Kranz allerdings einmal dabei, wie sie das »Neue Deutschland« flux über die Feindpresse, nämlich den »Spiegel«, schiebt. Unzweifelhaft, die Wahrheit hatte in jenen Tagen zwei Gesichter. Mindestens.

Aber die Botschaftsflüchtlinge, die Ausreisewelle, der sich regende Unmut von DDR-Bürgern spielen in dieser Geschichte nur eine Nebenrolle: Beim Melden der Schüler zum Unterrichtsbeginn stellt man fest, dass Peggy schon seit Wochen fehlt. Wo wird sie bloß sein? Und dann ist da dieser Neue in Mircos Parallelklasse, ein hartgesottener Außenseiter, der den meisten Mitschülern schon deshalb suspekt ist, weil er nicht Mitglied bei den Pionieren ist. Wie sich herausstellt, lebt dieser Torsten bei seiner sehr jungen, dauerrauchenden, alleinerziehenden Mutter. Der Vater hat die beiden im Stich gelassen. Abgehauen.

Für den schmächtigen Mirco, der tunlichst verheimlicht, dass ihn die Eltern abwechselnd zum Klavierunterricht und in die katholische Kirche schicken, wird Torsten zum Verbündeten. Mit diesem Unnahbaren an der Seite, der jedem und allem trotzt, fühlt Mirco sich stärker, als er ist. Vor allem beim Tischtennis. Denn darum geht es in »Kinderland« vor allem: um die Durchsetzung eines von der Pionierleiterin abgelehnten Tischtennisturniers, das Klarheit über die Kräfteverhältnisse auf dem Schulhof schaffen soll. Wie dumm, dass die neu verteilten Kräfteverhältnisse auf dem politischen Pflaster am Ende einen dicken Strich durch diese Rechnung ziehen. Just an dem Tag, an dem das Turnier stattfinden sollte, ist die Berliner Mauer gefallen. Es nützt nichts, dass Mirco – scharf auf sein ersehntes Doppel mit Torsten – sich mit Händen und Füßen wehrt: Seine Eltern »entführen« ihn vom Schulhof in den plötzlich erreichbaren Westen.

Was dem Schriftsteller Jochen Schmidt in Romanen wie »Schneckenmühle« oder in seinem Anteil an dem Erinnerungs-Doppelbuch »Drüben und drüben. Zwei deutsche Kindheiten« auf dem Gebiet der Belletristik gelingt, schafft Mawil mit seiner erzählenden Zeichenkunst: die späte DDR als liebenswerten Lebensort wachzurufen, dessen Eigenheiten dort heranreifende Persönlichkeiten prägten – im Positiven wie im Negativen. Als würden sie gleichermaßen gegen Verklärung und Verteufelung anschreiben, sind Schmidt und Mawil wie versessen darauf, ihren erinnerten Alltag bis in entlegene Winkel auszuleuchten, jeder mit seinen Mitteln. Durch diese Genauigkeit gelingt beiden auf leichten Füßen etwas ungeheuer Wichtiges: aus fünfundzwanzigjähriger Entfernung die Deutungshoheit über das eigene Leben, hier die Kindheit, zu bewahren.

Das größte »Unrecht«, das Mawils Comichelden Mirco widerfährt, ist die durch den Mauerfall verhinderte Ping-Pong-Partnerschaft mit Torsten, der Mircos Fernbleiben als existenziellen Verrat empfindet. Immerhin könnte die vom Begrüßungsgeld für Torsten erstandene West-Tischtenniskelle der versöhnliche Ausgangspunkt einer ganz anderen Geschichte werden. Mawil aber lässt seine Erzählung mit einer den Winnetou-Filmen abgeschauten Blutsbrüderschaft enden, die erst mal mächtig in die Hose geht. Torsten hat das Messer so wuchtig über seinen Unterarm geritzt, dass er beinahe verblutet. Der »abgehauene« und nun durch die offene Mauer zurückgekehrte Vater bringt die Jungs im klapprigen Westauto ins Krankenhaus. Letzter Satz: »Ihr seid doch keine Kinder mehr!«

Die »letzten Kinder der DDR« haben sich in den vergangenen Jahren immer wieder mal zu Wort gemeldet, um sich als Erfahrungsgemeinschaft zu präsentieren. Mich davon zu überzeugen, Teil eines solchen »Wir« zu sein, konnte aber weder Jana Hensel mit ihrem pauschalisierenden Buch »Zonenkiner« noch der Initiative »Dritte Generation Ost« mit ihren diversen Projekten und Diskursen gelingen. Ein kollektives Erleben, dachte ich, kann es gar nicht geben. Erst Mawils subjektives »Kinderland«, proppenvoll mit scheinbar randständigem Geheimwissen, hat mich vom Gegenteil überzeugt. Es gab nicht nur Alltagsprodukte, Gebäudetypen, Fahrzeuge, Wohnungseinrichtungen und Zeremonien, die offenbar jeder kannte, es gab auch scheinbar originelle Verhaltensweisen, Sprüche, Imponiergesten, Kleinstrituale und private Auseinandersetzungen, die weniger individuell waren als gedacht.

Es kann sein, dass Leute, die jünger oder älter sind oder im Westen aufgewachsen, weit weniger in diesem Buch erkennen als ich. Andererseits: Man muss Gerhard Schönes Lied »Kinderland« nicht auswendig mitgesungen und nicht bei Reinhard Lakomys »Gespensterduett« gezittert haben, um eine Menge aus diesem fröhlichen Buch zu lernen. Man muss nur fähig sein, genau hinzusehen.

Mawil: Kinderland. Reprodukt, 298 S., brosch., 29 €.

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