Der Runde tagte am Eckigen
Gremium für Kompromisse: Vor 25 Jahren begann der Runde Tisch der DDR seine Arbeit. Wie der Student André Hahn den demokratischen Neuanfang erlebte
Wie wichtig eine Institution ist, zeigt sich auch in Details. Die Männer und Frauen, die im Dezember 1989 am zentralen Runden Tisch der DDR mitzuarbeiten begannen, erhielten Handys. Klobige Geräte zwar, die manchem aber fast unerhört luxuriös erschienen. »Wir sollten stets erreichbar sein«, sagt André Hahn. In seiner Studentenbude gab es damals noch nicht einmal ein Festnetztelefon.
Hahn, heute Bundestagsabgeordneter der LINKEN, war in jenem Dezember 26 Jahre alt, Forschungsstudent an der Humboldt-Uni Berlin und vermutlich jüngster Mitwirkender in einem Gremium, in dem die alten und neuen politischen Kräfte der im Umbruch befindlichen DDR gemeinsam arbeiteten - auf Augenhöhe, wie man heute formulieren würde. In der Runde, die nach polnischem Vorbild eingerichtet wurde, saßen neben Vertretern der im Rückzug begriffenen SED, der Blockparteien und von Organisationen wie dem FDGB auch Abgesandte von gerade gebildeten neuen Initiativen: »Neues Forum« und »Demokratie jetzt«, der »Grünen Liga« und dem »Unabhängigen Frauenverband«. Die 32 Plätze waren paritätisch verteilt; die Moderation oblag zwei Vertretern der Kirchen.
Als das Gremium am 7. Dezember 1989 im Bonhoefferhaus in Berlin-Mitte erstmals tagte, saß Hahn noch nicht am Runden Tisch, der eigentlich ein Rechteck war; dort waren politisch Prominente wie Lothar de Maizière und Gregor Gysi, Wolfgang Ullmann, Wolfgang Schnur oder Gerd Poppe vertreten. Hahn wirkte in der Arbeitsgruppe Bildung - gemeinsam etwa mit Marianne Birthler und Angelika Barbe. An den »großen« Tisch rückte man, wenn Fachthemen besprochen wurden. Insgesamt hätten 193 Personen am Runden Tisch mitgearbeitet, sagt Hahn, der später über dessen Arbeit promovierte.
Demokratisch legitimiert war das Gremium nicht; die zur Mitwirkung bestimmten Organisationen sandten Vertreter »nach Reputation, Aktivität, Eignung oder Funktion«, schreibt Hahn. Er selbst freilich wurde von der frisch gegründeten »AG Junge Genossen« der SED als Abgesandter gewählt; auch beim »Neuen Forum« und »Demokratie jetzt« gab es Abstimmungen. In der Bevölkerung habe die Runde, deren Sitzungen das Fernsehen übertrug, aber enormes Vertrauen genossen, wie Wäschekörbe voller Briefe belegten, sagt Hahn. Faktisch entstand so ein drittes Machtzentrum neben Regierung und Volkskammer, eine »Nebenregierung«, wie es auch heißt. Deren Einfluss verstärkte sich noch, als Vertreter des Runden Tischs in die Übergangsregierung von Hans Modrow eintraten.
In der Rückschau wird die Arbeit des Runden Tischs oft auf ein Thema reduziert: die Auflösung der Staatssicherheit. Hahns Analyse zeigt, dass das nicht stimmt. In insgesamt 16 Sitzungen fasste das Gremium 123 Beschlüsse zur Sozialpolitik, 99 zu Justiz und Wahlen, 68 über Umwelt und Ökologie, aber nur 33, die sich mit der Auflösung des MfS bzw, von dessen Nachfolger AfN befassten. Die in Hahns Augen gewichtigste Leistung wurde erst nach der offiziell letzten Sitzung des Runden Tischs am 12. März 1990 vollendet: Eine Arbeitsgruppe legte einen Entwurf für eine neue Verfassung vor. Behandelt wurde dieser in einem Parlament aber nicht mehr. Am 18. März fuhr die CDU bei der Wahl einen klaren Sieg ein; gut ein halbes Jahr später trat die DDR der Bundesrepublik bei.
Befragt nach den Spuren, die der Runde Tisch in deren politischem Alltag hinterließ, zieht Hahn eine zwiespältige Bilanz. Auf der einen Seite ging es vielen Mitstreitern wie ihm: Für sie bedeutete die Mitarbeit am Runden Tisch den Einstieg in eine politische Laufbahn. Von 193 Vertretern traten 45 ein Mandat in Volkskammer, in Landtagen und Bundestag an. Aus dem Gremium gingen der letzte DDR-Regierungschef, acht Minister, ein Bundes- sowie vier Landesminister und vier Staatssekretäre hervor. 54 Vertreter arbeitet später in Parteivorständen auf verschiedenen Ebenen mit. Hahn, der zeitweise Fraktionschef der LINKEN in Sachsen war und seit 2013 im Bundestag sitzt, spricht von einem »nachhaltigen Beitrag zur politischen Elitenbildung«.
Einen nachhaltigen Beitrag zur politischen Kultur scheinen der zentrale Runde Tisch und die vielen Gremien auf regionaler und lokaler Ebene dagegen nicht geleistet zu haben - zum Bedauern von damals Beteiligten. Als Hahn kürzlich im argentinischen Parlament über den Wendeherbst 1989 und die Arbeit des Runden Tischs berichtete, bezeichnete er es als seine wichtigste dort gemachte Erfahrung, dass »über Anträge nach deren Inhalt und nicht nach dem Absender abgestimmt wird« - ein Vorgehen, das in bundesdeutschen Parlamenten eine seltene Ausnahme darstellt. In Sachsen hätten Abgeordnete der CDU, die ab 1990 viele Jahre lang mit absoluter Mehrheit regierte, bereits 1991 in einem Papier festgestellt, dass die Zeit der Runden Tische vorbei sei. Bis in einer maßgeblichen Frage - der Aufnahme einer Schuldenbremse in die Landesverfassung - auf die Opposition zugegangen wurde, verging im Freistaat fast ein Vierteljahrhundert.
Runde Tische gab es in dieser Zeit in Deutschland dennoch: zu Themen wie der Heimerziehung oder dem sexuellen Missbrauch von Kindern. Das Modell, glaubt auch Hahn, hat nicht ausgedient: »Es ermöglicht in einer zugespitzten politischen oder sozialen Situation einen friedlichen Weg und zeigt, dass der Kompromiss mehr wiegt als das Beharren auf der eigenen Position.«
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