Die Schwachen zerquetschen

Günter Saalmann schrieb einen Sozialthriller, in dem eine wertvolle Geige eine Rolle spielt

  • Rainer Klis
  • Lesedauer: 3 Min.

Sie kommen aus Kasachstan, ein Häufchen, auf das in Deutschland niemand gewartet hat, schon gar nicht in der deutschen Literatur: die junge Lehrerin Klawdia Wessely, die von einem Musikstudium träumt, Bruder Wolodja, Erfinder und singender Lebenskünstler, die Mutter mit den drei goldenen Zähnen, und der Vater spricht noch das Siedlerschwäbisch aus der Zeit Katharinas der Großen. Er ist Bauelektriker und als solcher Held der sozialistischen Arbeit gewesen, was er im Fragebogen für die neue Heimat verschweigt.

Dass er sich trotzdem bei Gebäudereinigern verdingen und seiner kleinen Familie eine Plattenwohnung anmieten kann, verdankt er unwissentlich einem Gaunernetzwerk und der alten Familiengeige, auf der ein Fluch liegen soll. Denn neben Großmutters üblicher Ostergabe, getrockneten Pilzen in Zeitungspapiertüten, fand Vater Wessely das gute Stück überraschend im Reisegepäck - in letzter Minute hineingeschmuggelt von der Alten, bevor sie zu Hause friedlich das Zeitliche segnete.

Dabei hatte sie jahrelang behauptet, die Fiedel für Speck verscheuert zu haben! Von Vaters Urahn Jakob 1860 in Innsbruck gefertigt, war das Instrument mit dessen Tochter Elsa ans Schwarze Meer gelangt. Im Bürgerkrieg jedoch zermalmte ein Kosakenstiefel der weltberühmten Konzertvirtuosin die Geigenhand, weshalb sie sich vom Dach stürzte und ihren Vater für immer im Trübsinn zurückließ. Die kostbare Geige dagegen mit der warmen Stimme blieb erhalten; der junge Oistrach bot später zwanzigtausend Rubel dafür. Ein Klacks, wie sich herausstellen wird, aber da ist es für die Wesselys bereits zu spät.

Saalmann lässt sie erst einmal Gruben graben, in die sie eigentlich selbst hinein stürzen müssten. Doch das Geschehen entfaltet sich anders, folgerichtiger. Seine Protagonistin Klawdia schickt der Autor zunächst ins gut gemeinte Haus der Völker, wo sich tatsächlich alle einfinden, die sich verständigen sollen: junge Kasachen, Russen, Kosovaner von der UÇK, Berlinerinnen und Berliner wie Mark Weller alias Odin, Groß-Berlin. Er ist Tonmeister im hauseigenen Musikstudio, in dem Klawdia üben darf, und wird ihre zweite erste Liebe. Als die gut verschlossene Wessely-Geige über Nacht verschwindet, droht eine Völkerschlacht. Die Weißen, Russlanddeutsche und Großdeutsche, geführt von Odin, formieren sich gegen die Schwarzen, den UÇK-Nachwuchs, der das Instrument geklaut haben soll.

Von Kapitel zu Kapitel wird der Leser vertrauter mit dem exotischen Terrain, mit der Oberglatze Odin, den militanten Bürgerkriegsflüchtlingen, die er am liebsten adoptieren möchte. In dem zwischen alle Fronten geratenen Klubleiter Uwe Uwtschik, der seine Schützlinge mit preiswerten Spaghettiportionen füttert, findet er schließlich eine Person, die er selbst sein könnte.

Der seit DDR-Zeiten erfolgreiche Jugendbuchautor, Jazz-Posaunist und Nonsensverse-Verfasser Günter Saalmann lässt Gerechtigkeit walten gegen seine Figuren, gute alte Schule eben. Auch kommt ihm kein saftloser oder gar überflüssiger Satz unter. Mit präzisen Schnitten, in knappen Kapiteln, strebt die lakonische Erzählung ihren Höhepunkten zu. Geschickt nutzt Saalmann für den unpopulären Stoff Klischees als Fußangeln und entwickelt aus der herzergreifenden Familientragödie einen Sozialthriller.

Pünktlich zur Sonnenfinsternis 1999 kommt es zum Finale. Klawdia beginnt zu fiedeln, sie steht auf dem Hausdach wie einst Ahnin Elsa, keinen Fußbreit vom Abgrund entfernt. Blau, blau, blau blüht der Enzian …, kratzt sie auf der mickrigen Ersatzgeige, spendiert von einem gut situierten Altnazi, an dem selbst der Autor nichts mehr aufmenscheln kann. Die Geschichte hat ihre denkbar schlimmste Wendung genommen. Aber Saalmann wäre nicht der raffinierte Erzähler, bediente er wenigstens dieses eine Mal die geschürte Lesererwartung. Denn mit dem vorletzten Satz kommt es abermals anders - bitter genug. Mit dem allerletzten jedoch, so lapidar, wird's vollends finster in der neuen Heimat.

Bleibt nur eine Frage: Wofür, hochgeschätzter Kollege, brauchte es dazu eine Sonnenfinsternis?

Günter Saalmann: Fiedlerin auf dem Dach. Roman. Eichenspinner Verlag. 204 S., br., 12,90 €.

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