»Man sollte die Aufrichtigkeit nicht fürchten«

Dokumentation der Erklärung der kubanischen Filmschaffenden der g-20 zum Akt der Zensur auf dem Filmfestival

  • Lesedauer: 6 Min.
Auf dem 36. Internationalen Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films ordneten die kubanischen Behörden an, den Film »Regreso a Ítaca« des französischen Regisseurs Laurent Cantetaus aus dem Programm zu nehmen. Dagegen regt sich unter vielen Künstlern Widerstand.

»… etwas zu verschieben, bringt keine Lösung. Wenn ein Übel existiert, schafft man keine Abhilfe, indem man zulässt, dass es sich vergrößert.«
José Martí

Auf dem 36. Internationalen Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films gab es einen Akt der Zensur: Auf Anordnung der höchsten Instanzen des Kulturministeriums und des kubanischen Filminstituts ICAIC wurde die Festivalleitung gezwungen, den Film »Regreso a Ítaca« des französischen Regisseurs Laurent Cantet wieder aus dem Programm zu nehmen. Eine einmalige Aufführung war am 12. Dezember im Kino Charles Chaplin außerhalb des Wettbewerbs vorgesehen.

Kubanisches Kino ist der Ort der Debatte

Die kubanischen Filmemacher trugen seit der Revolution 1959 dazu bei, mit dem Kino einen Ort zu schaffen, wo Debatten zwischen den Kulturschaffenden und der politisch-ideologischen Leitung der Revolution konstruktiv geführt wurden. Filme wie PM (Orlando Jiménez Leal und Sabá, 1961), Alicia en el pueblo de Maravillas (Daniel Díaz Torres, 1990), Guantanamera (Tomás Gutiérrez Alea, 1995) oder Suite Habana (Fernando Pérez, 2003) sind einige der Produktionen, die Polemiken im Kulturbetrieb hervorgerufen haben. Selten war die Ästhetik Stein des Anstoßes.

Die periodisch auftretenden Debatten, die im ärgsten Falle in Verbote führten, wie es bei PM oder Alicia ... war, sind Eingriffe in die Meinungsfreiheit. Ohne Zweifel. Dennoch blieb die Filmproduktion, die bis vor einigen Jahren fast ausschließlich über das staatliche Filminstitut ICAIC lief, in ihrer Mehrheit kritisch-provokativ. Seit Alicia ... gab es keine weitreichenden Verbote für sozialkritische oder vermeintlich konterrevolutionäre Filme. Das bezeugen auch die neuesten kubanischen Filme, die im Internationalen Festival des Lateinamerikanischen Films 2014 in Havanna gezeigt wurden.

Umso unverständlicher mutet der Fall um den Film Regreso a Ítaca an, der trotz Ankündigung im Festivalkatalog ohne offizielle Erklärung kurzfristig aus dem Programm genommen wurde. Der vom französischen Regisseur Laurent Cantet gedrehte Film basiert auf einer Episode des Romans La novela de mi vida (dt. Die Palme und der Stern) des kubanischen Schriftstellers Leonardo Padura, der auch am Drehbuch mitschrieb. Der Film behandelt unter anderem die Exilthematik Kubas.

Für die Präsentation des Films in Kuba setzt sich die g-20 vehement ein. Die g-20 konstituierte sich im Mai 2013, als sich rund 80 Filmemacher spontan im Cafe »Erdbeer und Schokolade« in Havanna versammelten, darunter etwa der Filmnationalpreisträger Manuel Pérez Paredes. Grund dafür war: Das Institut soll umstrukturiert werden, ohne aber die Filmschaffenden daran teilnehmen zu lassen.

Die Widersprüche im kubanischen Kulturapparat sind nicht überwunden. Ob mit Alfredo Guevara, Gründer des ICAIC. der bis kurz vor seinem Tod 2013 dem Filmfestival präsidierte, eine Epoche zu Ende ging, ist offen. Bis zu Redaktionsschluss gab es noch keine offizielle Stellungnahme. Ute Evers

Die Filmschaffenden, die wir unten firmieren und zur g-20 gehören – das Komitee, das die Filmschaffenden vertritt und in einer öffentlichen und offenen Versammlung gewählt wurde –, lehnen diesen Akt der Zensur ab, der dem kulturellen Wesen der kubanischen Nation vollkommen fremd ist. Wir entschieden, während des Festivals nicht an die Öffentlichkeit zu treten, um einem erfolgreichen Ablauf nicht im Weg zu stehen. Hinzu kamen Ereignisse, die unser Land aufwühlten – die Rückkehr der noch drei unrechtmäßig inhaftierten Helden, die noch auf ihre Freiheit gewartet hatten, und deren Rückkehr in das Vaterland uns alle mit Freude erfüllte, ebenso wie die Nachricht über die Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen Kuba und den USA; eine Gegebenheit, die im Land eine außergewöhnlich komplexe Etappe im Bereich der Kunst und der Ideen eröffnet. Alles das veranlasste uns, die Erklärung aufzuschieben.

Seit vergangenen November beschlossen wurde, die Vorführung des bereits im Festivalkatalog angekündigten Films Regreso a Ítaca abzusagen, unternahmen wir alles in unserer Macht Stehende, um das zu verhindern, was wir für einen kulturellen und politischen Unsinn halten. Wir meinen, dass eine solche Entscheidung die methodischen Schwächen eines Kultursystems offenlegt, über den Dialog sowohl mit den Filmschaffenden als auch mit der Regierung zu handeln. Regreso a Ítaca wurde mit dem ICAIC in Kuba gedreht, was die Zensur einmal mehr verschlimmert, da sie sich gegen sich selbst richtet und die Verantwortlichkeit und Professionalität der Führungskräfte des Instituts und des Kulturministeriums in Frage stellen.

Die Ausübung von Zensur innerhalb der Revolution hat nie Positives hervorgebracht. In diesem Fall wie auch in anderen Fällen der Vergangenheit sind die Verantwortlichen für die Konsequenzen, die sich aus diesem Vorgehen ergeben, die Zensoren und die Funktionäre, die die Anordnungen treffen, weil sie es nicht wagen, Vorwarnungen zu geben noch gegen die Handlungen zu argumentieren, die erwiesenermaßen ein Irrtum sind.

Wir unterstützen die Festivalleitung in ihrer klugen, intelligenten und revolutionären Politik der Programmgestaltung, die sich an den Lehren eines Mannes wie Alfredo Guevara (1925-2013) inspirierte, der in seiner langen und beispielhaften Laufbahn als Präsident des Festivals aus seinen Erfahrungen, Erfolgen und Fehlern lernte und an ihnen wuchs. Diese Politik respektiert das Recht der Zuschauer, jedes Werk zu sehen und es selbst zu beurteilen, ohne paternalistischen Filter, der an seiner Stelle interpretiert und entscheidet – besonders gilt das für das Werk, welches uns hier beschäftig, denn »Regreso a Itaca« betrifft uns Kubaner thematisch, es ist ein respektvoller und mit Aufrichtigkeit produzierter Film, indem außerdem bedeutende und beliebte kubanische Schauspieler mitspielen. Unser Publikum hat das Recht, diesen Film zu sehen und sich selbst eine Meinung zu bilden.

Die UNEAC, die Organisation, die die Mehrheit der kubanischen Schriftsteller und Künstler vereint, sollte eine andere und aktive Rolle spielen. Wir Filmschaffenden bedauern es, dass sich ihre Leitung weder eingeschaltet noch etwas zu diesem schwerwiegenden, unnötigen und unzeitgemäßen Akt der Zensur beigetragen hat, über den wir und die Darsteller des Films sie informiert haben.

Wir Filmschaffende bekennen uns nachdrücklich zu unserem Recht, uns zu jedem Problem zu äußern, und insbesondere dann einzugreifen, wenn es unsere Arbeit und unser Leben als Kunstschaffende betrifft. Wir zweifeln nicht daran, dass es sich dabei um grundlegende und revolutionäre Rechte und Pflichten handelt. Wir lehnen die subtilen Formen der Zensur ab, die jenen auferlegt werden, die ihre Meinung offen darlegen, ebenso die Verteufelung von Ausdrücken wie »Filmgesetz« und »Unabhängige Filmschaffende«, wie auch die Kreation eines negativen Bildes über eine Gruppe, die man versucht in das Umfeld der Opposition und Konfrontation zu platzieren, nur weil sie notwendige und nützliche Vorschläge unterbreitet, die noch nicht auf der offiziellen Agenda stehen.

Wir streben danach, so bald wie möglich die Zeiten wiederzuerlangen, in denen wir mit den kulturellen Instanzen, jenen der Regierung und der Partei, über jegliche Themen, zukünftige Pläne oder Meinungsverschiedenheiten sprechen konnten. Wir möchten beispielhaft an den Fall des Films »Guantanamera« erinnern, als Fidel sich direkt den Künstlern stellte, von Angesicht zu Angesicht, um unsere Meinungen anzuhören und seine zu äußern, wobei er uns direkt in die Augen schaute.

Es kündigen sich komplexe Zeiten an, in denen wir Erfahrungen und Widersprüche erleben werden, die notwendigerweise von der kubanischen Kunst und Literatur aufgenommen werden. Die noch nie dagewesene Situation, die sich dem Land seit dem 17. Dezember stellt, macht die auf das o.g. Werk verübte Zensur noch unhaltbarer.

Wir erklären uns weiterhin bereit zum Dialog und zur Zusammenarbeit.
Kehren wir zu Martí zurück: »Man sollte sich nicht vor der Aufrichtigkeit fürchten; nur das Verborgene ist zu fürchten.«

Unterzeichnet von: Arturo Arango, Enrique Álvarez, Claudia Calviño, Rebeca Chávez, Ernesto Daranas, Luis Ernesto Doñas, Lourdes de los Santos, Magda González Grau, Senel Paz, Manuel Pérez Paredes, Fernando Pérez Valdés, Pedro Luis Rodríguez (Havanna, 17. Dezember 2014)
Übersetzung: Ute Evers

Kubanisches Kino ist der Ort der Debatte

Die kubanischen Filmemacher trugen seit der Revolution 1959 dazu bei, mit dem Kino einen Ort zu schaffen, wo Debatten zwischen den Kulturschaffenden und der politisch-ideologischen Leitung der Revolution konstruktiv geführt wurden. Filme wie PM (Orlando Jiménez Leal und Sabá, 1961), Alicia en el pueblo de Maravillas (Daniel Díaz Torres, 1990), Guantanamera (Tomás Gutiérrez Alea, 1995) oder Suite Habana (Fernando Pérez, 2003) sind einige der Produktionen, die Polemiken im Kulturbetrieb hervorgerufen haben. Selten war die Ästhetik Stein des Anstoßes.

Die periodisch auftretenden Debatten, die im ärgsten Falle in Verbote führten, wie es bei PM oder Alicia ... war, sind Eingriffe in die Meinungsfreiheit. Ohne Zweifel. Dennoch blieb die Filmproduktion, die bis vor einigen Jahren fast ausschließlich über das staatliche Filminstitut ICAIC lief, in ihrer Mehrheit kritisch-provokativ. Seit Alicia ... gab es keine weitreichenden Verbote für sozialkritische oder vermeintlich konterrevolutionäre Filme. Das bezeugen auch die neuesten kubanischen Filme, die im Internationalen Festival des Lateinamerikanischen Films 2014 in Havanna gezeigt wurden.

Umso unverständlicher mutet der Fall um den Film Regreso a Ítaca an, der trotz Ankündigung im Festivalkatalog ohne offizielle Erklärung kurzfristig aus dem Programm genommen wurde. Der vom französischen Regisseur Laurent Cantet gedrehte Film basiert auf einer Episode des Romans La novela de mi vida (dt. Die Palme und der Stern) des kubanischen Schriftstellers Leonardo Padura, der auch am Drehbuch mitschrieb. Der Film behandelt unter anderem die Exilthematik Kubas.

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